Praxisbeispiel Folge 22
Das Mühlendenkmal

Ein Mann und eine Frau und eine Lebensaufgabe

Nordwest-Zeitung Oldenburg, 3. August 2013

Kampf auch ohne Windmühlenflügel

Dauer-Projekt – Cathrin Eßbach und Jan Lange erfüllen Holler Mühlen-Denkmal mit neuem Leben

Von Stephan Onnen

Holle – Nein, an Zufälle glaubt Cathrin Eßbach nicht. Irgendwie scheinen sich im Leben alle Puzzleteile zu einem großen Ganzen zu fügen. Wie ist es sonst zu erklären, dass sie gemeinsam mit ihrem Freund Jan Lange vor vier Jahren eine Ausbildung als „Freiwillige Müllerin“ absolviert hat. Ein Jahr lang war das Paar alle vier Wochen in einer anderen Mühle, hat Mahlsteine geschärft, sich in engen Mühlenkappen die Köpfe gestoßen und die Segel der Flügel gesetzt. Und jetzt leben Eßbach und Lange selber in einer Mühle, einem Denkmal. Seit dem 1. Juli 2011 sind sie in dem 1887 erbauten Galerieholländer an der Holler Landstraße 114a zuhause. „Ein Reihenhaus passt nicht zu uns. Wir werkeln gerne und brauchen Platz um uns herum. Und Mittagsruhe von eins bis drei gibt’s bei uns auch nicht“, lacht Cathrin Eßbach.

Gebäude mit „Seele“

Auf die Holler Kornmühle waren sie schon während ihres Müller-Lehrgangs aufmerksam geworden. Als sie Jahre später auf der Suche nach einer ländlichen Immobilie, einem Resthof, waren, stießen sie in einem Inserat wieder auf Holler Mühle. „Als wir sie live gesehen haben, war es Liebe auf den ersten Blick“, sagt Cathrin Eßbach. „Da hat das Schicksal Regie geführt.“

Das Backsteingebäude nennt die 46-Jährige „unser Baby“. Und in der Tat braucht das historische Gemäuer, das relativ günstig erworben werden konnte, viel Fürsorge und macht eine Menge Mühe. Der Mühle bescheinigt sie eine „Seele“. Als das Gebäude anfangs von Styroporplatten, die ihm als Dämmung die Luft genommen hätten, befreit wurde, habe es regelrecht aufgeatmet, so Eßbach.

Lebenslanges Projekt

Um ein schleichendes Absacken zu verhindern, hat Jan Lange das Haus als erstes über eine nachträgliche Pfahlgründung stabilisiert. In der oberen Etage hat der 33-Jährige ein Zimmer für seine Tochter Lena hergerichtet. Die Achtjährige ist auch jetzt in den Sommerferien zu Besuch. In der Mühle fühlt sie sich pudelwohl.

Um die Tür zum Mühlenraum wieder in ihrer ursprünglichen Breite herzustellen, musste eine Wand herausgerissen werden. Neue Fenster wurden eingesetzt, die Heizung wurde erneuert und ans Abwärmenetz der benachbarten Biogasanlage angeschlossen. Dass sich im Winter trotzdem Eisblumen an den Fenstern bilden, findet Cathrin toll. „Das bringt uns unsere Kindheit zurück.“ „Wir sind nie fertig“, sagt Jan achselzuckend. Die Windmühle sei ein lebenslanges Projekt – ob es 38 oder 42 Jahre dauere, sei egal. „Wir wollen uns nicht zu Sklaven unseres Hauses machen, sondern nehmen uns auch Zeit für andere Dinge“, sagt Cathrin. Zum Verzweifeln bleibe keine Zeit, auch dann nicht, wenn mal Wasser aus der Wand tropft.

Keinen Tag bereut

Die Entscheidung, in einem Denkmal zu wohnen, haben beide „noch keinen Tag bereut.“ „Ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen“, sagt Cathrin Eßbach. „Dabei sind wir eigentlich Stadtmenschen.“ Und eigentlich ist Eßbach Architektin. Die 46-Jährige hatte bis dato ihren Lebensmittelpunkt in Osnabrück. Sie betreibt dort seit zwölf Jahren das „Penthouse Backpackers“-Hostel. Lange stammt aus Zschopau bei Chemnitz, ist gelernter Bäcker und Krankenpfleger, hat sein Geld als Dachdecker und Isolierer verdient. Jetzt arbeitet er als Lagerist beim Monumentendienst, der das Ziel hat, den Bestand an historischen Gebäuden im Weser-Ems-Gebiet zu erhalten. Auch das ist wieder so ein Puzzleteil, das genau passt: Denn den historischen Bestand ihrer Mühle wollen auch Eßbach und Lange sichern. Hier wird zwar nie mehr Korn gemahlen, aber die vorhandene Mühltechnik mit Mahlstein, Mahlgang, Kammrad, Drehkranz und Flügelwelle soll erhalten bleiben.

Kran nimmt Kappe ab

An diesem Sonnabend folgt ein weiterer Meilenstein bei der Instandsetzung: Per Kran wird ab 10 Uhr die tonnenschwere Mühlenkappe abgenommen. Das von Schädlingen befallene Holz muss saniert werden. Während der „kopflosen“ Zeit, erhält die Mühle ein provisorisches Dach. Für die Kappensanierung in Eigenregie veranschlagt Jan Lange etwa fünf Jahre. In Panik verfällt er deswegen nicht: „Es geht in kleinen Schritten in die richtige Richtung.“ Und das ist garantiert kein Zufall.

Infobox

Mühle 1887 erbaut – Flügel gestutzt

Seit 1584 ist der Platz, an dem die Holler Windmühle steht, als Mühlenstandort bekannt. Die Windmühle wurde 1887 in Köterende, wo sie als Wasserschöpfmühle zur Polderentwässerung genutzt wurde, abgebaut und nach Holle versetzt. In Holle war sie als Kornmühle in Betrieb und galt mit ihren 18 Meter langen Flügeln als Wahrzeichen des Ortes.
1950 wurde die Mühle stillgelegt. Das Bild zeigt den Zustand Anfang der 60er Jahre.
1977 kaufte der Oldenburger Horst Ribken die Mühle. Er erweiterte das Mühlengebäude 1978 um einen Anbau und baute die beiden unteren Geschosse zu Wohnräumen um. Die Flügel mussten Anfang der 80er Jahre auf Geheiß des Denkmalschutzes demontiert werden. 1986 ließ er die Galerie neu installieren. 1989 zog er nach Hessen und vermietete die Räumlichkeiten. Die Holler Mühle ist Teil der Niedersächsischen Mühlenstraße.

Jede Menge Handwerk und eine stille Tugend: Weglassen-Können.

„Nein, an Zufälle glaubt Cathrin Eßbach nicht. Irgendwie scheinen sich im Leben alle Puzzleteile zu einem großen Ganzen zu fügen.“ Der Autor führt das Motiv weiter und variiert dabei die Begriffe „Zufall“, „Schicksal“ und „Puzzleteil“. Brigitte Seibold (www.prozessbilder.de) zeigt das in ihrer Illustration.

Ein Leitmotiv als roter Faden

Mit dem Schicksals-Motiv schafft Onnen eine Ebene, auf der die Leser mitdenken und -fühlen können. Das Deuten des eigenen Lebens, das Einordnen von Ereignissen als Glück, als Pech, als Zufall – das beschäftigt uns alle, nicht nur Häusle- oder Mühlenbauer. Gibt es das, einen großen Zusammenhang?

Die Story als Resonanzraum

Auf der Folie der Mühlen-Geschichte läuft der Lebensfilm der Leser mit. Unwillkürlich fragt man sich: Was ist mit meinen Träumen von einem besonderen, ungewöhnlichen Leben? Wann habe ich etwas Verrücktes gemacht, wo bin meinem Herzen gefolgt, oder dem Ruf des Abenteuers? Wollte ich so exotisch wohnen, könnte ich so leben mit Eisblumen und einer tropfenden Wand? Über die lokale Relevanz hinaus erzählt der Artikel von einer Haltung zum Leben. Er stellt das Besondere vor, und das Allgemeine zur Diskussion.

Der Fokus, das Weglassen

Zwei Menschen folgen ihrem Traum und räumen dabei Hindernisse aus dem Weg. Stephan Onnen erzählt die Geschichte von der Liebe eines Paares zu ihrer Mühle stringent und klar. Was nicht dazugehört, lässt er weg. Klingt simpel, ist es aber nicht. Onnen lässt weg, wie die beiden sich kennenlernten. Er erzählt nichts über Kaufverhandlungen, Bankkredite, Umzug und Einzug. Er schweigt über die Zahl der Zimmer, Quadratmeter oder die Raumhöhe. Kein Wort über die Energieeffizienz des Eisblumen-Raums oder die Auflagen des Amts für Denkmalpflege. Allein die Geschichte der Mühle darf mit, und das nur im Kasten.

Schillernde Hauptfiguren

Cathrin Eßbach und Jan Lange sind ein ungewöhnliches Paar. Sie Akademikerin, er Handwerker, sie Wessi, er Ossi, er 13 Jahre jünger als sie. Er, der Bäcker mit Dachdecker-Erfahrung und sie, die Architektin, sind fasziniert vom Müllerhandwerk, von der Mühle. Sie sind begeisterte Heimwerker und dabei einig über den Stellenwert ihres Herzensprojekts: Sie werden sich nicht zu seinem Sklaven machen.

Der Autor beschreibt seine Figuren über Zitate und Handlungen. Er kommt ohne Etiketten aus. Nirgends stehen Begriffe wie „alternativ leben“ oder „Individualisten“.

Lokal relevant

Spätestens ab jetzt werden die Leser der Nordwest-Zeitung die Augen aufhalten, wenn sie die Niedersächsische Mühlenstraße entlangfahren: Wo ist sie denn, die Holler Mühle? Und wenn sie das Behelfsdach, die Ersatzkappe sehen, wissen sie bereits, was da los ist. Möglicherweise können sie auch mit dem Namen „Cathrin Eßbach“ etwas anfangen, der Betreiberin des „Penthouse-Backpackers“ Hostels in Osnabrück.

Extra-sinnliche Details

Wenige Details genügen, um der Mühle Charakter zu verleihen. Im Winter wachsen Eisblumen an den Fenstern. Gelegentlich tropft Wasser aus der Wand. Diese sinnlichen Eindrücke vermittelt Stephan Onnen über Aussprüche seiner Protagonisten. Sie gehen über das Sehen und Hören hinaus: Der kalte Hauch, den die „Eisblume“ auslöst, spricht den Temperatursinn an, die Thermorezeption. Die Schmerzempfindung kommt ins Spiel, wenn die Müllerslehrlinge sich in der Mühlenkappe – im Dach der Mühle – die Köpfe stoßen. Die Körperempfindung oder Propriozeption wird der Mühle selbst zugesprochen, sie „atmet auf“, als sie von der Styropor-Dämmung befreit wird. Merke: Es gibt noch weitere Sinne neben den klassischen fünf. Ihr Einsatz im Text bewirkt, dass Leser die Mühle als lebenden Organismus spüren und die Leidenschaft der Müllersleut sinnlich erleben.

Leser führen und verführen

Die beiden Fotos signalisieren: Hier wird die Geschichte einer Wandlung erzählt, es geht um ein Vorher-Nachher. Die Mühle alt – um 1960 im Sepia-Kasten – die Mühle neu – in Farbe mit Familienidyll. Das bunte Foto wirbt mit sympathischen Figuren und baut subtile Spannung auf. „Entspannt im Sand“, heißt es in der Bildunterschrift. Man ahnt: Das kann nicht alles sein. Hinter den Liegestühlen, im Gemäuer der Mühle, lauert Knochenarbeit.

Story-Check

Die Mühle erlebt ein Vorher-Nachher, die Protagonisten erleben es auch. Ihr Weg führt über den Müller-Freizeit-Kurs zur eigenen Mühle. Der Weg ist gekennzeichnet durch Schlüsselszenen – Liebe auf den ersten Blick, Entscheidungen – Kaufen und Hindernisse wie das drohende Absacken des Gebäudes. Genau das sind Charakteristika einer Story. Ein Vorher (Anfang), ein Nachher (Ende) und eine Mitte, die vom Zusammenhang dazwischen erzählt.

Autor

Stephan Onnen

Stephan Onnen, Jahrgang 1968, hat nach dem Abitur und der Ausbildung zum Verlagskaufmann bei der Oldenburger Nordwest-Zeitung volontiert und wurde 1992 als Redakteur übernommen. In der Lokalredaktion Hude ist er heute weitgehend sein eigener Chef, am zweiten Schreibtisch sitzt eine Volontärin oder ein Volontär.

Stephan Onnen ist verheiratet und hat zwei Kinder (12 und 15 Jahre alt). In seiner Freizeit engagiert er sich als Jugendtrainer des Fußball-Regionalligisten VfB Oldenburg.

Die Mühle liegt zwölf Kilometer entfernt von unserer Redaktion, in einer sehr ländlichen Region, wo es mehr Kühe und Schweine gibt als Menschen. Ich hatte zuvor noch nie von ihr gehört. Die Sekretärin des Bürgermeisters hier in Hude hatte mir erzählt, dass es Menschen gibt, die diese Mühle sanieren, und dass ihr Chef eine Einladung zur Demontage des Dachs bekommen hat. Wir haben dann Kontakt zu Cathrin Eßbach und Jan Lange geknüpft – was nicht einfach war, weil sie nicht im Telefonbuch stehen. Den Termin hätte eigentlich meine Kollegin übernehmen sollen. Weil sie verhindert war, bin dann ich relativ spontan losgefahren – und musste die Mühle erst mal suchen.

Ich hatte kein Zeitlimit eingeplant, sondern einfach die Hoffnung, dass die Besitzer der Mühle sympathisch sind und sich ein Gespräch ergibt. Tatsächlich hatten wir auch gleich einen guten Draht zueinander. Ich war etwa zwei Stunden da, bin mit Jan Lange bis unter die Kappe zur Flügelwelle geklettert, habe mir selbst den Kopf gestoßen, wie es im Text beschrieben ist (lacht).

Ich habe mir in der Mühle alles zeigen lassen, habe mich mit Jan Lange Stockwerk für Stockwerk hochgearbeitet. Die Besitzer waren sozusagen bereit, mir ihr Innerstes zu öffnen. Das einzige, was in der Mühle fertig war, war das Zimmer von Jan Langes Tochter Lena. Trotzdem war gerade Cathrin Eßbach stolz auf jeden kleinen Erfolg. Diese Zufriedenheit, die entspannte Einstellung des Paares wollte ich zeigen – auch im Bild übrigens. Ich gebe innerhalb des Textes fast chronologisch die kleinen Fortschritte bei der Mühlensanierung wieder. Das ist der rote Faden des Artikels. Und die Instandsetzung der Mühlenkappe ist eben der nächste Meilenstein, der zu diesem Zeitpunkt erst noch bevorstand.

Wir sollten versuchen, den Lesern mehr Unerwartetes zu bieten, ihnen in der besonderen Art, wie wir Vorgänge erzählen, Lesevergnügen zu bereiten. Wenn wir nur Termine wahrnehmen würden, hätten wir bald keine Auflage mehr. Wir müssen versuchen, auch trockene Themen nah am Menschen zu erzählen. Zu meinem Artikel über die Mühle etwa habe ich zwar keine direkten Rückmeldungen von den Lesern bekommen, aber offensichtlich einige dazu gebracht, sich selbst auf den Weg dorthin zu machen. Als das Dach schließlich abgenommen wurde, gab es Kaffee und Kuchen, viele Zuschauer waren gekommen – ein richtiges Event.