Praxisbeispiel Folge 28
Wie ich einmal Deutscher wurde

Ein Mann will einen deutschen Pass. Er ist Südtiroler, Germanist. Kinderspiel – meint man.

27. Juli 2013, Rhein-Zeitung Koblenz

Wie ich einmal Deutscher wurde

5693 Rheinland-Pfälzer sind im vergangenen Jahr eingebürgert geworden. Unser Redakteur war einer von ihnen

(Die Kommentare in blau gehören nicht zum Text, sie benennen die jeweiligen Stationen der Heldenreise)

Von Dietmar Telser

In dem Jahr, in dem ich beschließe, Deutscher zu werden, ist die Welt wieder einmal schlecht auf dieses Land zu sprechen. In Griechenland verbrennen sie deutsche Flaggen auf den Straßen, in Italien zeichnet eine Zeitung der Kanzlerin ein Hitlerbärtchen unter die Nase, und aus England kreischt die Daily Mail „Willkommen im Vierten Reich“. Es ist Schuldenkrise, und Deutschland hat sich mit seiner – sagen wir – Finanzdisziplin, wieder einmal ziemlich unbeliebt gemacht.
(Gewohnte Welt – der Held erscheint in seinem vertrauten Umfeld)

Um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, braucht man keinen Termin. Um Deutscher zu werden, muss man nicht einmal eine Wartenummer ziehen. „Kommen Sie einfach vorbei“, sagt der Leiter des Sachgebietes für Staatsangehörigkeitsrecht, Rolf Mehlem, am Telefon.
(Der Held macht sich auf den Weg – er übertritt eine Schwelle)

Die Einbürgerungsstelle liegt im Stadtteil Rauental, das Büro von Herrn Mehlem in der zweiten Etage, Zimmer 202. Wer die Treppen nimmt, kommt an einem Fenster vorbei, von dem der Blick in ein anderes Fenster ins Nachbargebäude fällt. Es muss ein Abstellraum sein. Dutzende Aktenordner sind darin aufgetürmt, zum Teil sind die Stapel umgekippt, zerfleddertes Papier ist aus den Mappen gerutscht und drückt gegen die Scheibe. Es ist, als könne die gegenüberliegende Behörde der Akten nicht mehr Herr werden, als würde sie von den eigenen Verordnungen erdrückt. Ich muss an Kafkas „Schloss“ denken und an einen zermürbenden Weg durch das Labyrinth der deutschen Bürokratie. Und ich möchte eigentlich sofort wieder umdrehen.
(Weigerung – der Held zögert)

Aber die Tür zu Herrn Mehlems Büro ist offen. Er lächelt zur Begrüßung, „Ja, ich erinnere mich“, und tippt schon meinen Namen in den Computer ein. Ich habe mich auf dieses Gespräch vorbereitet. Ich weiß, was ich antworten werde, wenn mich Herr Mehlem fragt, weshalb ich Deutscher werden will. Ich werde sagen, dass ich fast so viele Jahre meines Lebens in Deutschland verbracht habe wie in meinem Geburtsland Italien, dass ich mich als Bürger dieses Landes sehe, alle Rechte wahrnehmen möchte und natürlich auch all die Pflichten. Und ich werde sagen, dass ich bei den nächsten Bundestagswahlen gern meine Stimme abgeben möchte. Vielleicht würde ich auch erklären, dass ich es leid bin, an Grenzkontrollen deutlich länger gemustert zu werden, als meine Freundin, die in Deutschland geboren wurde, und ich würde eventuell auch schildern, wie sie einen ansehen, wenn man als Italiener in einem großen Elektronikmarkt einen Kühlschrank auf Raten kaufen möchte. Vielleicht würde ich auch erzählen, wie schwer es ist, als Ausländer eine DVD auszuleihen, weil in Videotheken keine ausländischen Personalausweise akzeptiert werden, sondern nur eine Meldebestätigung, die ich natürlich nie dabei habe. Und dann würde ich sofort sagen, dass es gar nicht um diese blöde DVD geht, sondern darum, dass einem als Ausländer immer wieder vermittelt wird, nicht wirklich dazuzugehören. Das alles würde ich Herrn Mehlem sagen. Aber das alles will er gar nicht wissen.

Er wird so tun, als gäbe es nichts Naheliegenderes für jemanden, der seit 15 Jahren in diesem Land lebt. „Sie können eingebürgert werden und dabei auch die italienische Staatsangehörigkeit behalten“, sagt er, „mit der neuen Staatsangehörigkeit erhalten Sie alle Rechte und Pflichten und verlieren keine.“ Dann spricht er über das Staatsangehörigkeitsgesetz. Eigentlich referiert er fast darüber, er redet sich in Begeisterung, erzählt von Fällen, die es geschafft haben, und man merkt, wie er sich darüber noch heute freut und ich denke, wenn Deutschland so ist wie der Beamte Mehlem, dann möchte ich eigentlich gern Deutscher werden.

Einbürgerungen sind längst kein Staatsakt mehr. 5693 Rheinland-Pfälzer sind im vergangenen Jahr deutsche Staatsbürger geworden. Die Koblenzer Einbürgerungsstelle gilt als die eifrigste im Land. In den vergangenen drei Jahren wurde hier die höchste Quote an Einbürgerungen in ganz Rheinland-Pfalz erzielt.

Es ist etwas einfacher geworden, Deutscher zu werden, nachdem das alte wilhelminische Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz zum Jahr 2000 überarbeitet wurde. Bis dahin zählte vor allem das Ius Sanguinis, das Recht des Blutes, das sogenannte Abstammungsprinzip. Das Kind bekam dann die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn es einen deutschen Vater oder eine deutsche Mutter hatte. Deutscher konnte auch werden, wer seit 15 Jahren hier lebte. Inzwischen gilt eine Mischung aus dem Abstammungsprinzip und dem Ius Soli, dem Recht des Bodens, also dem Geburtsortsprinzip. Kinder mit ausländischen Eltern, die hier geboren werden, erhalten automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Allerdings müssen sich Jugendliche bis zum 23. Lebensjahr entscheiden, welche Nationalität sie behalten wollen. Man spricht vom Optionsmodell.

 Eigentlich hätte das neue Staatsangehörigkeitsgesetz damals viel weiter gehen sollen. Rot-Grün wollte, dass alle Ausländer beide Staatsangehörigkeiten behalten dürfen, dass also auf das Optionsmodell verzichtet wird. Aber die Union hat dies mit einer Unterschriftenaktion verhindert. Die Christdemokraten gewannen damit die Wahlen in Hessen und kippten auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Das Optionsmodell war das Zugeständnis, damit auch das SPD und FDP regierte Rheinland-Pfalz für die Reform votierte.

Bis heute lehnt der große Teil der CDU die Doppelstaatsbürgerschaft ab. Erst vor wenigen Wochen hat der Bundesrat wieder eine Initiative zur doppelten Staatsbürgerschaft angestoßen. Das Gesetz muss aber durch den Bundestag und wird dort wohl weiter von der CDU blockiert. Die Christdemokraten sind der Meinung, dass jemand nicht zwei Ländern gegenüber loyal sein kann. „Die deutsche Staatsbürgerschaft ist kein Ramschartikel“, hat CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt vor Kurzem gesagt.

Es ist eine seltsame Diskussion. Denn in der Praxis gibt es so viele Ausnahmen, dass die Doppelstaatsbürgerschaft längst üblich ist. Fast alle EU-Bürger können ihre alte Staatsbürgerschaft behalten. Einwanderer etwa aus dem Irak, Afghanistan, Syrien, dem Libanon oder Tunesien können ihre Pässe ohnehin gar nicht abgeben – sie bleiben Doppelstaatsbürger. 2741 Menschen, also fast die Hälfte der im vergangenen Jahr in Rheinland-Pfalz eingebürgerten Personen, haben nach der Einbürgerung ihren alten Pass zumindest vorerst behalten.

Iraker können also gleichzeitig Deutsche sein, Deutsche gleichzeitig Italiener. Aber Norweger oder Türken nicht. Nachvollziehbar ist dies kaum. Auch verramscht wurden die Staatsbürgerschaften bisher nicht. 1999, vor der Reform, wurden 5015 Bürger im Land eingebürgert, zunächst stieg die Zahl auf mehr als 7000. Inzwischen sind es nur ein paar Hundert weniger als vor dem Jahr 2000. Es ist also nicht so, dass der große Ansturm auf die deutsche Staatsangehörigkeit eingesetzt hätte.

Herr Mehlem sagt, dass es einen Trend zum Doppelpass gebe und dass sich daran in den nächsten Jahren wohl nichts ändern wird. „Wir brauchen die Zuwanderer.“ Dann lächelt er und blickt in die Luft, als würde er im Kopf rechnen. „Es gibt die verrücktesten Konstellationen.“ Er sagt, wenn eine Schwedin, die mit einem Finnen verheiratet ist, in Deutschland ein Kind bekommt, das sich später in Italien einbürgern lässt, dann kann sie vier Pässe besitzen. Dann blickt er nachdenklich an mir vorbei. „Wahnsinn, was es da gibt.“ Als hätte er es gerade erst selbst zum ersten Mal festgestellt.
(Der Held trifft einen Mentor und erläutert uns seine Motive) 

„So“, sagt Mehlem dann und wird wieder sachlich. Er legt ein Papier auf den Schreibtisch. „Wir benötigen von Ihnen“ steht darüber, und Herr Mehlem füllt die leeren Stellen mit dem Kugelschreiber aus: Pass, Freizügigkeitsbescheinigung, also so etwas wie eine Aufenthaltsgenehmigung für EU-Bürger, Geburtsurkunde, Einkommensnachweise. Der Staat verlangt auch einen Nachweis, dass ich deutsche Sprachkenntnisse habe. Ich bin zwar Angehöriger einer deutschsprachigen Minderheit in Italien, Deutsch ist meine Muttersprache und mein Vorname ist so deutsch, dass es weh tut. Aber dem Gesetzgeber ist das egal. Nur mein Germanistikstudium rettet mich vor dem Sprachkurs. „Beim Einbürgerungstest können wir aber nichts machen“, sagt Mehlem.

Herr Mehlem überreicht mir eine Adressenliste mit Sprachschulen, die den Test abnehmen. Und er legt eine Kopie des Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei. Herr Mehlem sagt, dass er jetzt alles in die Wege leiten wird. Dass er Stellungnahmen der Behörden einfordern wird, die dauern können: Meldebehörde, Ausländerbehörde, Bundeszentralregister, Polizei, Landeskriminalamt, Verfassungsschutz. „Ku-Klux-Klan“, fragt er, „oder kurdische PKK?“ Und als ich lächle und nicht sofort antworte, wird er ernst. „Sie waren doch nicht Mitglied in einer extremistischen Vereinigung?“ „Nein,“ sage ich.

Ich werde dafür sorgen, dass ich einen Geburtsnachweis aus Italien erhalte, und wenige Wochen später sitze ich wieder bei Herrn Mehlem. Er sagt: „Och, Sie hätten das ruhig auch schicken können.“ Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass er sich freut. Außerdem muss ich reden. Es sind wenige Tage bis zum Einbürgerungstest. Wir sprechen über Loyalitäten und Wahlen. Die Union sagt, dass Mehrstaatigkeit zu Loyalitätskonflikten führt. Aber warum kann es keine Identität und Loyalität über Grenzen hinweg geben? Ich möchte meine Herkunftsidentität behalten, und ich will in Deutschland wählen, weil ich hier arbeite und in diesem Land nun seit Jahren meinen Lebensmittelpunkt habe. Ich möchte aber auch in Italien abstimmen, weil ich dem Land emotional verbunden bin und es mir wichtig ist, dass Leute nicht mehr in das Parlament gewählt werden, die eigentlich besser ins Gefängnis gehören.

Mehlem sieht das pragmatisch. Er erklärt, was er nicht mag: „Wenn jemand sagt, dass er halb Deutscher, halb Italiener ist.“ Nach der Einbürgerung sei man beides. „Sie sind Italiener. Und Sie sind Deutscher.“ Gerade läuft die Fußball-Europameisterschaft. Ich frage zum Abschied im Spaß. „Darf ich weiter zu Italien halten?“ Mehlem blickt mir lange in die Augen. „Sie müssen.“

Aber die Sache wird noch komplizierter. Am 28. Juni 2012 muss ich zum Einbürgerungstest antreten. Es ist der Tag des größten anzunehmenden Loyalitätskonflikts, dem EM-Halbfinale Italien – Deutschland. Und es ist der Tag, an dem die Staatsanwaltschaft sich zu einem Rassismusvorfall in Neuwied äußert. Schwarzen wurde der Zutritt zu einer Fußballübertragung verwehrt. Die Staatsanwaltschaft teilt mit: „Selbst wenn die Vorkommnisse wahr sind, was man zunächst einmal unterstellen muss, erfüllen sie nicht den Bestand einer Straftat.

Vor dem Test bin ich aufgeregt. Herr Mehlem hatte mir eigentlich Mut gemacht. Er hatte gesagt, dass es bisher noch fast jeder geschafft hat, es eigentlich unmöglich ist durchzufallen. Tatsächlich wird die Bestehensquote in Rheinland-Pfalz in diesem Jahr bei 98,7 Prozent liegen.

Ich habe meinen Freunden gesagt, dass ich mich nicht darauf vorbereite, weil ein Scheitern unwahrscheinlich sei. Dann habe ich heimlich zu Hause den Test geübt. So lange, bis ich keine Fehler mehr mache. Am Morgen vor dem Test habe ich noch einmal gelernt. Aber ich werde das niemandem verraten.

Der Einbürgerungstest besteht aus viele Fragen zum Holocaust. Ich habe Deutschland immer für seine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bewundert, ich hätte mir dies oft in Italien gewünscht. Jetzt merke ich, wie die Geschichte endgültig auch meine wird. Deutscher zu werden, heißt auch Ballast aufzunehmen.
(Der Held hat Prüfungen zu bestehen)

Am 28. Juni, 16 Uhr sitze ich in einer Sprachschule in der Koblenzer Rizzastraße und warte auf die Teilnehmerbogen. „Willkommen zum Einbürgerungstest“, sagt eine Mitarbeiterin der Sprachschule und teilt die Bogen aus. Ich erhalte die Prüfungsnummer 39490, die Testbogennummer 3411073. Mein Banknachbar aus Ungarn sagt, dass er sich lange auf den Test vorbereitet hat. Und dass er die Frage nicht beantworten konnte, bei der es um die Voraussetzungen für einen Gerichtsschöffen ging. Er hat seine deutschen Arbeitskollegen gefragt. „Keiner wusste es.“ Und er hat gesagt, dass er sich über die Antwort auf die Frage wunderte, wer die ersten Gastarbeiter Deutschlands waren. Italiener lautet die und nicht Türken. Ich sage nichts und verschweige, dass ich beim Üben auch einmal das Häkchen bei den Türken gesetzt habe. Dann werden die Fragen verteilt.

33 Fragen sind es, 60 Minuten geben sie uns Zeit. Mein neuer Nationalstaat will von mir wissen, wer den deutschen Bundesrat bildet. Wie das Wappen von Rheinland- Pfalz aussieht und welche Aufgaben die Bundesversammlung hat. Sie wollen aber auch wissen, wo man einen Hund anmelden muss. Ich stelle mir vor, dass es Menschen gibt, die vielleicht gerade an dieser Frage gescheitert sind. Und sie stellen noch seltsamere Fragen. „Was kann ich machen, um eine Buslinie zu erhalten, die abgeschafft werden soll?“ Als Antworten werden unter anderem angeboten: einen Brief an das Forstamt schreiben. Oder: Ich trainiere Radfahren. Zuerst finde ich die Antworten amüsant, dann fällt mir die Aufregung eines anderen Teilnehmers auf, der ganz offensichtlich Angst davor hat, den Test nicht zu bestehen. Und mich beschleicht ein unangenehmes Gefühl. Ich finde die Antworten nicht mehr lustig.

Es kommt auch folgende Frage: Zwei Freunde wollen in ein öffentliches Schwimmbad in Deutschland. Beide haben eine dunkle Hautfarbe und werden deshalb nicht hineingelassen. Welches Recht wird in dieser Situation verletzt? Es geht um das Gleichbehandlungsprinzip. Ich muss an die Meldung der Staatsanwaltschaft denken.

Nach 20 Minuten möchte eine Teilnehmerin wissen, wie viele Fehler sie machen darf. Von 33 Fragen müssen 17 richtig beantwortet werden, um den Test zu bestehen. Aber die Mitarbeiterin der Sprachschule kann die Frage nicht beantworten. Es entspinnt sich kurz eine Diskussion, dann wird gelacht. Bis ein Teilnehmer wütend wird. Er sagt, dass er sich konzentrieren muss und man merkt, wie ernst die Sache hier ist.

Die Frage 22 will ich nicht beantworten. Welche Religion die europäische und deutsche Kultur geprägt hat, wollen sie von mir wissen. Hinduismus, Christentum, Buddhismus, Islam stehen zur Auswahl. Nur eine Antwort ist richtig. Aber hat sich nicht Schopenhauer intensiv mit dem Buddhismus auseinandergesetzt? Hat Hesses „Siddhartha“ nicht die deutsche Kultur geprägt? War Hegel nicht von Hinduismus beeinflusst? Und hatte der Islam keine Folgen für Europas Kultur? Zumindest kann man darüber diskutieren. Ich kreuze alle vier an.
(Der Held überschreitet eine zweite Schwelle)

Kurz bevor die 60 Minuten vorbei sind, fotografiere ich meinen Testbogen. Und bekomme dafür richtig Ärger.

„Haben Sie jetzt fotografiert?“, fragt die Mitarbeiterin.
„Ja, zur Erinnerung.“
„Das dürfen Sie nicht.“
„Warum?“
„Das ist nicht erlaubt.“
„Warum nicht?“
„Sie müssen das Foto löschen.“
„Ich will das nicht“, sage ich und lüge „außerdem war es ja nur das Deckblatt.“
„Nur das Deckblatt?“
„Nur das Deckblatt.“
„Gut.“

Am Abend gewinnt Italien gegen Deutschland 2 zu 1. Die beiden Tore wird der im Jahr 2008 in Italien eingebürgerte Mario Balotelli schießen. Den Anschlusstreffer wird der im Jahr 2007 in Deutschland eingebürgerte Mesut Özil schießen. Ich freu mich über den Sieg. Und habe ein schlechtes Gewissen.
(Die schwierigste Prüfung)

In der Zeit, in der ich auf das Ergebnis meines Tests warte, verreise ich mit Freunden nach Schweden. Wir sind Italiener und Deutsche. Ich muss an Herrn Mehlem denken und an die Konstellation, dass ein Italiener, der einen Deutschen in Schweden heiratet … An einem Abend sprechen wir über die Einbürgerung. Die Italienerin, seit 20 Jahren in Deutschland, kann sich nicht vorstellen, Deutsche zu werden. Niemals würden ihr das die Eltern zu Hause verzeihen, sagt sie. Und außerdem habe sie das italienische Polittheater der vergangenen Jahre entpolitisiert. Sie muss gar nicht wählen. Es gibt Streit. Ihre deutsche Freundin sieht dies als fehlende Loyalität zu dem Land, in dem sie lebt. Es geht um die Frage, ob Einwanderer sich ohne Staatsbürgerschaft nicht einer Verantwortung entziehen. Und auch darum, ob man sich als Einwanderer zu diesem Land bekennt oder nicht. In Italien gibt es ein Sprichwort. Es heißt, dass die Italiener die Deutschen respektieren, aber sie nicht lieben. Und die Deutschen, sagt man, lieben die Italiener, aber sie werden sie niemals respektieren können.
(Das Ziel scheint erreicht, doch der Held ist weiteren Prüfungen ausgesetzt)

Wir werden zu viel Wein getrunken haben, und am Ende ist von Arroganz und Überheblichkeit die Rede, und es werden sich zwei Fronten gebildet haben: auf der einen Seite Italien, auf der anderen Deutschland. Ich merke, dass ich jetzt zwischen den Stühlen sitze. Und muss an die CDU denken.

 Zwei Wochen danach erhalte ich ein Paket. Es ist ein Pappkarton mit der Bescheinung über die erfolgreiche Teilnahme am Einbürgerungstest gemäß § 10 Absatz 5 Satz 1 StAG. Eine Antwort war falsch.

Wenig später sitze ich wieder bei Herrn Mehlem. Und alle Zweifel verfliegen. Er freut sich, als ich ihm erzähle, wie ich durch den Einbürgerungstest noch einmal ins Grübeln gekommen bin. „Wir kommen jetzt in die heiße Phase“, sagt er. Dann reicht er mir seine Visitenkarte. „Wir beide müssen jetzt ständig im Kontakt bleiben.“

Am 19. September 2012 erhalte ich ein Schreiben vom Ordnungsamt der Stadt Koblenz. „Bescheid“ steht groß in Sperrschrift drüber. „Ihr Antrag auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.“ Ich soll am 1. Oktober um 10.15 Uhr bei Herrn Mehlem vorsprechen, dem Antrag wurde stattgegeben. Um 10 Uhr stehe ich bei Herrn Mehlem. Die Einbürgerungsurkunde ist in einer Dokumentenhülle mit einem Büttenpapiermuster. Sie ist grün und trägt den Bundesadler als Wasserzeichen.

„So“, sagt er, „das ist die Urkunde.“ Natürlich muss ich eine Empfangsbestätigung unterschreiben. „Ich erkläre feierlich, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte“, liest Herr Mehlem vor. Und als ich frage, ob ich den Satz wiederholen soll, sagt er zuerst: „Das tue ich Ihnen nicht an. Aber wenn Sie möchten…“ Ich wiederhole den Satz. Dann überreicht mir Herr Mehlem das Grundgesetz und sagt „Sie können jetzt ein Foto machen.“
(Der Held ergreift seine Belohnung)

Ich bin jetzt Deutscher. Ich habe einen deutschen Pass, einen deutschen Personalausweis und einen Gartenzwerg. Den hat mir meine Kollegin aus der Redaktion zur Einbürgerung geschenkt. Wenige Wochen nach der Einbürgerung verreise ich zum ersten Mal mit dem deutschen Pass. Am Flughafen von Tunis setze ich mich in ein Taxi. „Von wo sind Sie?“, fragt der Fahrer. Früher habe ich Italien gesagt, und die Taxifahrer haben darauf meist geantwortet „Ah, Spaghetti, Pizza.“ Manchmal haben sie auch „Buenos dias“ gesagt. Zum ersten Mal aber werde ich „Deutschland“ sagen. Der tunesische Taxifahrer beugt sich zu mir, kommt näher und flüstert mir ins Ohr. „Eil Itler.“
(Der Held kehrt als veränderte Persönlichkeit zurück in seine alte Welt)

Stationen einer Heldenreise

Sämtliche Stationen der Heldenreise lassen sich explizit oder implizit in Telsers Geschichte identifizieren. Die Nummern in der Illustration von Brigitte Seibold (www.prozessbilder.de) zeigen, dass Telser in den ersten Absätzen von der Hollywood-Reihenfolge abweicht.

Stil

Stil sei eine der großen unerschlossenen Ressourcen im Journalismus. Das behauptet der Schweizer Journalist und Blogger Constantin Seibt. Und weiter: Der Ton einer Geschichte sei die Hälfte der Botschaft. Telsers Text zeigt genau das. Der Stil macht den Ton und der Ton die Musik. Anmerkungen zum Stil unterliegen den gefetteten Worten im Text.

Die Struktur der Heldenreise

Die Struktur ist ein weiterer Grund, warum Telsers Text so gut funktioniert. Sie entspricht einem archaischen Erzählmuster. Christopher Vogler, Drehbuchautor in Hollywood, hat es unter dem Begriff der „Heldenreise“ populär gemacht hat. Das Muster geht zurück auf Studien des Mythenforschers Joseph Campbell. Campbell hat Legenden, Märchen, Mythen und Sagen vieler Völker und Zeiten verglichen hat, um so etwas wie eine universale „Urgeschichte“ zu finden. Er fand sie. Die Filmindustrie arbeitet damit – von Star Wars bis Harry Potter – weil sie Erfolg verspricht. Die Urgeschichte als Blaupause erzeugt Spannung und Mitgefühl, weil das Publikum sich in ihr wiederfindet.

Die 12 Stationen der Heldenreise

Station 1– Gewohnte Welt: Der Held erscheint in seinem vertrauten Umfeld.
Im ersten Absatz erscheint der Ich-Erzähler in seiner Rolle als Redakteur. Er beschreibt „die Welt“ – vertreten durch Griechenland, Italien und England – und ihren Blick auf Deutschland.

Station 2 – Ruf des Abenteuers/ Berufung: Der Held erlebt einen Mangel oder wird vor eine Aufgabe gestellt.
Von Mangel bzw. seinen Wünschen erzählt der Protagonist im vierten Absatz. Er will wählen, er will nicht komisch angesehen werden, er will das Gefühl haben, dazuzugehören. Deshalb entscheidet er sich für das Abenteuer einer Einbürgerung. Er stellt sich außerdem eine Zusatzaufgabe: Er wird den Lesern seiner Zeitung von seinem Abenteuer erzählen.

Station 5a – Überschreiten der Schwelle: Der Held betritt die andere Welt.
Genau genommen ist die Station „Überschreiten der Schwelle“ zweigeteilt. Schon im Absatz 3 macht sich der Held auf den Weg zu Herrn Mehlem in den Stadtteil Rauental.

Station 3 – Weigerung: Der Held zögert.
Auf dem Weg zum Einbürgerungsbüro erblickt der Held ein Sinnbild für das „Labyrinth der deutschen Bürokratie“ – Türme von Aktenordnern und zerfleddertem Papier. „Und ich möchte eigentlich sofort wieder umdrehen“ (Absatz 3).

Station 4 – Ermutigung: Ein Mentor überredet ihn, die Reise anzutreten.
Der Held überwindet sein Zögern mit Hilfe eines Mentors – Herr Mehlem erwartet ihn bei geöffneter Tür und mit einem Lächeln – und hilft ihm so über die Schwelle (Absatz 4).

Station 5b – Überschreiten der Schwelle: Der Held betritt die andere Welt.
Der Held kommt ins Büro, Herr Mehlem fädelt ihn endgültig in den Einbürgerungsparcours ein, indem er seinen Namen in den PC eingibt (Absatz 4).

Station 6 – Prüfungen: Er trifft auf Feinde und Hindernisse, findet aber auch Verbündete.
Die ersten Prüfungen – geschildert in den Absätzen 13 und 14 – bestehen im Beschaffen der nötigen Papiere und Erfüllen von Formalia. Herr Mehlem erweist sich als kundiger Verbündeter, erläutert dem Helden die Anforderungen und besorgt seinerseits Stellungnahmen der Behörden.

Station 7– Zweite Schwelle: Der Held kommt ins Zentrum des Konflikts, er trifft dort seinen schlimmsten Feind.
In der Sprachschule muss der Held die entscheidende Prüfung bestehen. Er ist gut vorbereitet, damit nichts schief geht. Wissentlich macht er seine Kreuzchen an der falschen Stelle – „Welche Religion hat die europäische und deutsche Kultur geprägt?“ (Absatz 21)

Station 8 – Äußerste Prüfung: In einem existentiellen Kampf bezwingt er seinen Widersacher und erobert, was er braucht, um seine gewohnte Welt in Ordnung zu bringen.
Der Held widersetzt sich den Anweisungen der Prüfungsaufseherin, sein Foto vom Fragebogen zu löschen. Das Foto braucht er, um seine Nebenmission zu erfüllen. Er will ja einen bebilderten Artikel über seine Einbürgerung verfassen (Absatz 21 bis 26).

Station 9 – Belohnung: Der Held ergreift aktiv das Gut, das ihn bewog, loszuziehen, im übertragenen Sinn auch eine neu erworbenen Fähigkeit.
Das Gut ist die deutsche Staatsbürgerschaft, die aktive Handlung des Helden, die unverlangt ausgesprochene Erklärung: „… dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte“ (Absatz 33).

Station 10 – Rückweg: der Held geht den Weg zurück, er muss u. U. wieder mit Verfolgung oder Prüfungen rechnen.
Während der Held Urlaub macht und seine Belohnung noch aussteht, gerät er in Streit mit italienischen und deutschen Freunden und „sitzt zwischen den Stühlen“ (Absatz 28-29).

Station 11 – Auferstehung (die dritte Schwelle): Der Held kommt als veränderte, geläuterte Persönlichkeit zurück.
Die Prüfungen sind bestanden, der Held hat sein Ziel erreicht, er ist Deutscher, hat zwei Staatsbürgerschaften in der Tasche und ist Besitzer eines Gartenzwerges geworden (Absatz 34).

Station 12 – Rückkehr mit dem Elixier: Er nutzt die gewonnenen Fähigkeiten, Erkenntnisse, das neue Gut, um seine alte Welt ins Gleichgewicht zu bringen.
Vom Einbürgerungsabenteuer bringt der Held außer dem neuen Pass auch einen Artikel für seine Zeitung/die Leser mit. Seine Geschichte belehrt und erfreut. Leser können die Reise miterleben, erfahren Neues, und sind angeregt, über Deutschland, Europa und die Frage nach der prägenden Religion nachzudenken. So muss es sein. Nach Christopher Vogler ist das neue Gut auch immer ein Gewinn für die Gemeinschaft, in die der Held zurückkehrt.

Herr Mehlem, der Mentor

Der Beamte Rolf Mehlem, Leiter des Sachgebietes für Staatsangehörigkeitsrecht, ist neben dem Protagonisten die zentrale Figur im Text. Er ist weit mehr als ein Zitatgeber. Er zeigt sich als Verbündeter des Fremden, der Einlass begehrt. Der Autor gibt ihm Ziele, Profil und Seele. Das ist schlau. Denn, um es mit Christopher Vogler zu sagen: „Die Beziehung zwischen Held und Mentor ist eine der reichsten Quellen, aus denen Literatur und Film schöpfen können“. Der Mentor entspricht dem Archetyp des Ratgebers. Die Leser kennen ihn aus eigener Erfahrung. In Gestalt von Vater und Mutter, Lehrerin oder Volontärsbetreuer etc. begegnet er uns allen. Auf dem Grund der Zeitungsgeschichte leuchtet die Struktur des Mythos.

Noch was zur Sprache

Telsers Sprache lebt von Tugenden wie klaren, kurzen Sätzen – „Vor dem Test bin ich aufgeregt“. Und von einfachen Worten. Exemplarisch sei „sagen“ genannt, wunderbar konsequent im Finale eingesetzt – „Früher habe ich Italien gesagt … manchmal haben sie auch „Buonos dias“ gesagt … zum ersten Mal aber werde ich „Deutschland“ sagen.
Da gibt es Stilmittel wie leise Ironie – „Um Deutscher zu werden, muss man nicht einmal eine Wartenummer ziehen“ – inklusive Selbstironie „…mein Vorname ist so deutsch, dass es weh tut“. Es hat feine Beschreibungen – „…zum Teil sind die Stapel umgekippt, zerfleddertes Papier ist aus den Mappen gerutscht und drückt gegen die Scheibe“ und dazu Deutungen – „Es ist, als könne die gegenüberliegende Behörde der Akten nicht mehr Herr werden, als würde sie von den eigenen Verordnungen erdrückt“. Ist das schön?

Literaturtipps:

Constantin Seibt: Deadline. Wie man besser schreibt. Zürich 2013
Christopher Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Frankfurt 1997
Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt 1978

Autor

Dietmar Telser

Dietmar Telser, geboren 1974 in Südtirol/Italien. Studium in Wien, Göttingen und Hamburg der Germanistik und Kommunikationswissenschaften. Seit 2005 Redakteur der Rhein-Zeitung, seit 2012 auch Deutscher.

Mit dem Titel „Wie ich einmal Deutscher wurde“ spiele ich an auf eine märchenhafte Komponente, das Abenteuerliche einer Einbürgerung. Die Überschrift sollte aber auch den Ton der Geschichte vorgeben und mit der lakonischen Formulierung den aufgeladenen Themen Nationalbewusstsein, Identität und Deutschsein die Bedeutungsschwere nehmen.

Das Ich in Texten gefällt mir eigentlich nicht besonders. Ich schreibe selten aus dieser Perspektive. Ich verwende es nur dann, wenn sich die Geschichte nicht anders erzählen lässt. Eine andere Perspektive hätte hier aber wohl nicht funktioniert.

Herr Mehlem ist eine zentrale Figur in meinem Text. Ich hatte einen ganz anderen Menschen als Einbürgerungsbeamten erwartet. Zunächst dachte ich deshalb auch gar nicht daran, ihm so viel Raum zu geben. Erst als ich Freunden und Kollegen von der Einbürgerung erzählt habe und merkte, wie sehr sie sich für Herrn Mehlem interessierten, entschied ich mich, ihn in den Mittelpunkt zu rücken. Jemand, der so seinen Beruf lebt, ist ja auch ein Glücksfall für die Geschichte.

Das Auswählen war eine Qual. Sich von Szenen und Bildern trennen, die man sogar schon ausformuliert hat, ist nie einfach. Die Einbürgerungsfeier fehlt komplett, auch Gespräche mit anderen Eingebürgerten. Es gibt eine gestrichene Szene, die ein Schild in der Einbürgerungsbehörde mit dem Wort „Ausländerpolizei“ beschreibt. Ich wusste nicht, dass es diesen Begriff noch gibt. Ich bin am Ende eigens noch einmal hingefahren, habe das Schild beschrieben und recherchiert, weil mich der Begriff faszinierte und gleichzeitig abstieß. Trotzdem kommt es nicht vor. Der innere Widerstand begegnete mir ja zu Beginn in der Szene mit dem zerfledderten Aktenstapeln, und das wollte ich nicht doppeln, da wäre die Ausländerpolizei zu viel gewesen.