Mister Universum
Er ist der einzige Afghane, der je ins All fliegen durfte. Von dort oben sah Abdulahad Momand die Erde und war sehr stolz auf sie. Zurück auf dem Boden aber musste er aus seiner Heimat fliehen – und sich durch die deutsche Welt kämpfen.
Von Birk Meinhardt
Ostfildern – Jeden Wochentag um 6.27 Uhr, die Busse sind pünktlich im Schwabenland, fährt der afghanische Kosmonaut Abdulahad Momand vom Scharnhauser Park aus zur Arbeit, aber er sagt nicht, was für eine es ist. Um 16 Uhr, nur das teilt er noch mit, kommt er zurück, wieder mit dem Bus; und selbstverständlich hat der Bus keinen Schaffner, so wie ja auch ein Flugzeug keinen hat.
Dachte Momand einst: Dass in einem Flugzeug unbedingt ein Schaffner herumlaufen und kassieren müsse. Nicht anders nämlich kannte er es von den Bussen. Das war im Dorf Sardah, 100 Kilometer südlich von Kabul. Er sah, selten genug, so ein Flugzeug in der Luft, und es war für ihn das höchste der Gefühle, sich vorzustellen, der Schaffner darin, dieser Glückliche wäre einmal er.
Wobei er, nach achtzehn Jahren, die er nun in Deutschland lebt, Konduktor statt Schaffner sagt, mit russischer Betonung. Wir alle lassen manchmal unverhofft aufblitzen, wovon wir geprägt sind.
In dem Dorf wohnten 300 Familien. Seine gehörte zu den reicheren, jedenfalls nach afghanischen Maßstäben. Sein Vater, Bauer wie jeder in Sardah, konnte, obwohl er nicht die Schule besucht hatte, denn damals existierte dort keine, lesen und schreiben, so kamen die Nachbarn immer zu ihm, wenn eine Behörde ihnen einen Brief geschickt hatte oder sie selber etwas verfassen mussten.
Im Gegensatz zu ihm hat Abdulahad lernen dürfen, die ersten drei Jahre sogar in seinem Dorf. Der Unterricht fand in der Moschee statt, die wiederum keine Moschee war, wie man sie kennt, sondern eher eine zugige, schmucklose Halle. Im Winter war es bitterkalt darin; unmöglich, hier Stunden abzuhalten.
„Aber wie hat dann Ihre Familie ihr Haus geheizt? Oder war es auch nicht beheizbar? Und was war es eigentlich für eines? Ein Steinhaus? Nicht, oder?”
Seltsame Situation. Man sitzt mit ihm in seinem Reihenhaus, das er sich hat kaufen können, es steht in einem wegen seiner ökologischen Bauweise ausgezeichneten Viertel in Ostfildern, und die Fragen klingen, als zielten sie zurück in die Urgesellschaft oder doch in eine Epoche, von der nur noch Bücher berichten.
Die Sowjets bildeten ihn zum Kampfpiloten aus – danach geriet er zwischen die Fronten
„Es war aus Lehm. Es hatte keine Fenster, bloß Löcher in der Decke. Aber wir hatten es warm, denn es gab eine Fußbodenheizung, im Grunde dasselbe Prinzip, wie man es jetzt hier nutzt. Im Vorraum, wo auch gekocht wurde, brannte ein Feuer, dessen Hitze haben wir über kleine, in Stein gefasste Kanäle unterm Erdboden entlanggeleitet. Ja, in unserem Land ist das einst erfunden worden – oder in Ländern wie unserem.”
Zum Gedankenstrich muss man sich eine Redepause vorstellen, die vielleicht zwei oder drei Sekunden währt. Davor war ein stiller, fester Stolz zu hören, danach die Abneigung, auf irgendeine Weise aufzuschneiden, und diese Mischung aus tiefstem Ehrgefühl und größter Bescheidenheit wird sich immer wieder zeigen bei Abdulahad Momand.
Unvermittelt, in die Schilderungen heimatlichen Lebens hinein, sagt er: „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Ein Weltraumfahrer aus Afghanistan, die Wahrscheinlichkeit ist so gering wie . . . wie . . .” Und er sucht und findet keinen passenden Vergleich.
Es kam folgendermaßen: Momand, Jahrgang 1959, wurde in der Sowjetunion, in Krasnodar, zum Kampfpiloten ausgebildet, und zwar von 1978 an, zu einer Zeit, als die Sowjets noch nicht in Afghanistan einmarschiert waren. Aber Mohammad Taraki und seine Demokratische Volkspartei hatten schon die Macht übernommen, erst einmal nicht zum Schaden des Landes, im Gegenteil: Frauen erhielten Zugang zur Bildung, Gewerkschaften wurden legalisiert, Mindestlöhne eingeführt. Momand trat der Partei bei. Er war auch schnell Gruppenführer der 20 afghanischen Pilotenschüler in Krasnodar. Dann wurde im Radio die Besetzung gemeldet. Und am selben Tag erklärte Momand, er lege seine Funktion nieder.
„Sie haben gesagt, dass Sie gegen den Einmarsch sind?” – „Indirekt. Es laut zu sagen, war als Militärstudent nicht so einfach. So war es nur ein kleines Zeichen. Der Einmarsch war einfach inakzeptabel, das hat übrigens die Mehrheit der Parteimitglieder gedacht. Wir wollten ja nicht unbedingt den Sozialismus, wir wussten nichts von dem, kannten keine Theorie. Wir wollten nur ein bisschen mehr Gerechtigkeit. Dass, wenn ein Reicher und ein Armer Schuld auf sich laden, nicht immer nur der Arme büßen muss. Dass die Unterschiede zwischen Stadt und Land verringert werden, lauter solche Sachen.”
Was die kargen biographischen Daten betrifft, so war der Aufenthalt in Krasnodar Abdulahad Momands erster Schritt auf einem kurzen und scheinbar schnurgeraden Weg ins All. In Wahrheit aber stand Momand von nun an zwischen den Fronten. Ein Mann der Sowjets und doch nicht deren vorbehaltloser Freund. Ein Mann der sozialistischen Bewegung und doch kein glühender Sozialist.
Einmal kam er in Krasnodar ein paar Minuten zu spät vom Ausgang zurück. Der sowjetische Kasernenkommandeur ließ die gesamte Truppe antreten und rief zu Momand: „Was ist das für eine Haltung? In deinem Land sterben unsere Soldaten, und du kommst hier einfach zu spät!” Momand erwiderte: „Ich habe deine Soldaten nicht eingeladen. Ob sie sterben oder nicht, das ist mir völlig egal.” Der Kommandeur schwieg.
Ihm gegenüber. Anderen erstattete er Bericht. Als wenig später ältere Piloten aus Afghanistan anreisten, um in neuen Jets zu trainieren, wurde Momand, der gerade 20-Jährige, von einigen gewarnt: Sei vorsichtig, und höre, manchmal ist es besser, sich auf die Zunge zu beißen. Es waren dieselben Piloten, die ihm später, auf dem Flugplatz in Bagram bei Kabul, vor seinem ersten Einsatz gegen die Mudschaheddin etwas empfahlen: Wenn die Ziele in Dörfern liegen, wirf die Bomben außerhalb ab. Überleg dir irgendeine Begründung. Du bist von fernab liegenden Stellen aus beschossen worden und musstest dich wehren, oder es herrschte schlechte Sicht, was auch immer.
So handelte er dann. Und weil er weiß, dass man es nicht nachprüfen kann, sagt er eindringlich, „es ist die Wahrheit, alles, was ich erzähle, ist wahr”; und weil er andererseits nicht will, dass man denkt, er habe die Bomben niemals überm Ziel abgeworfen, sagt er ruhig, „meist ging es zu Gebirgsschluchten, und da haben wir gehandelt wie befohlen”; und weil zur Wahrheit auch gehört, dass die Mudschaheddin nicht nur die Guten waren, sagt er erbost, „die haben ihre Raketen auf Kabuler Bushaltestellen gefeuert, Dutzende Zivilisten hat es jedes Mal zerfetzt”; und weil er in Deutschland sitzt und nicht undankbar sein und doch seinen Gedanken vollenden will, sagt er leise, „das mochte man im Westen lieber nicht sehen, man hat ja die Mudschaheddin groß unterstützt, mit Worten und mit Geld”.
Wie heute nachzulesen ist, waren es an die 40 Milliarden Dollar. Und wie man heute weiß, begann das Geld über Geheimdienstkanäle schon vor der sowjetischen Intervention zu fließen, so wie die Mudschaheddin brutal gegen Lehrer auf dem Land schon vorzugehen begannen, ehe die Sowjets einmarschierten.
Plötzlich erschien Gorbatschow auf der Bildfläche und kündigte den Abzug der Roten Armee an. Schnell schnell sollte noch ein Afghane ins All geschossen werden, als Zeichen der Freundschaft beider Staaten und ihrer Menschen, wie es offiziell hieß. Reine Propaganda. Für Abdulahad Momand aber erwies es sich als ein großes Glück, dass man ihn huckepack nahm, denn abgesehen vom Traumhaften des Fluges war das Raumschiff der erste Ort seit langem, an dem er ohne Zwiespalt sich bewegen konnte, nicht nur schwerelos, sondern endlich auch frei im Geiste.
Er war erst 29, als er, nach nur halbjähriger Vorbereitungszeit, am 29. August 1988 mit Sojus TM-6 losflog. Auf den Bildern von damals sieht er beinahe aus wie der junge Omar Sharif, mehr noch wie Tom Selleck in „Magnum”, ein perfekt gebauter Mann mit schwarzem Schnauzer und erwartungsfrohem, freilich eher schüchternem als verwegenem Blick.
Der Schnauzer ist ab jetzt. Momand ist immer noch sportlich, aber seine Schultern sind ein wenig rund, was besonders dann sichtbar wird, wenn er einem den Rücken bietet. Das tut er oft, es ist Freitagabend, und Momand spielt, wie immer um diese Zeit, Volleyball, in einer Halle, die so schmal ist, dass gerade das Netz hineinpasst. Der Ball ist aus, wenn er an die Wand prallt, die Wand ist mit Veloursteppich bespannt, und der Teppich ist so alt, dass darin wohl Millionen Milben ihren dreckigen Twist tanzen.
Ein beinahe stummes Spiel. Ab und zu schimpft, dann und wann lacht jemand. So gut wie nie ist es der Kosmonaut.
Danach trifft man sich in der Sportkneipe. Selten nur ist Momand dabei, aber heute schon. Er spricht so leise, dass seine Leute, die ihn lange kennen, ohne allzu viel von ihm zu wissen, die Unterarme aufstützen und sich weit zu ihm beugen; wie sieht sie aus, die Erde von oben, Abdul, so blau, wie immer gesagt wird?
„Blaugrün. Sie wirkt vor allem deshalb so eindrucksvoll, weil um sie herum alles schwarz ist. Aber das Wichtigste ist, du siehst sie als Ganzes. Du fühlst dich auf eine pure Art als Mensch. Du bist sehr stolz, auf der Erde zu leben.”
Es hört sich an wie ein Märchen, es ist gar nicht wahr hier an der Rückwand der alten muffigen Halle, nach dem braven braunstichigen Spiel.
Beinahe wäre es bös ausgegangen, das Märchen, auch das weiß die Runde, aber nur so ungefähr, da erzählt Abdulahad Momand es mal genauer: Die Rückkehr zur Erde steht bevor. Mein Kommandant Ljachow und ich sitzen in der Landekapsel. Normalerweise werden zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Punkt der Umlaufbahn die Bremstriebwerke eingeschaltet, damit man in einem genau vorausberechneten Winkel in die Erdatmosphäre gelangt. Aber bei uns fangen sie zu spät an zu arbeiten. Wir würden hinter China im Ozean landen. Beim zweiten Versuch schalten sie sich rechtzeitig ein. Doch dann gehen sie gleich wieder aus. Plötzlich sehe ich ein Lämpchen aufleuchten. Es kündigt an, dass die Bremsmotoren weggesprengt werden. Offenbar denkt der Computer, sie hätten ihre Arbeit erledigt. Aber wir brauchen sie noch, sonst werden wir nie mehr von der Umlaufbahn herunterkommen und werden sterben. Wir müssen die Automatik außer Kraft setzen, sage ich zu Ljachow. Er: noch nicht. Ein zweites Mal derselbe Disput. Ich habe mich dann durchgesetzt und kurzerhand den Knopf gedrückt.” – „Und wie viel Zeit war noch, bis die Motoren weggesprengt worden wären?” – „Ganz exakt habe ich das nie erfahren. Zwischen zwei und 20 Sekunden wohl.”
Er wollte nur weg, bis sich die Lage im Land beruhigt hat, aber sie beruhigte sich nicht mehr.
Momand, der Zurückhaltende, ist richtig ins Erzählen gekommen; vielleicht wegen der wissbegierigen, ihm wohlgesonnenen Runde, vielleicht auch, weil das eine Episode ist, die allen und nicht zuletzt ihm selber zeigt, dass er von Nutzen war dort knapp unter den Sternen. Dass jenes sowjetische Grundmotiv, die Propaganda, seine Leistung doch nicht schmälert.
Er hat noch etwas getan im All, das von erhöhtem Wert war. Unten zogen die Sowjets ab, und oben sprach er eine überallhin gesendete Botschaft: Wir Afghanen brauchen keinen Krieg mehr, ich sehe von hier aus keine Panzer und Flugzeuge, lasst uns das Land gemeinsam aufbauen.
Die Worte waren in den nicht vorhandenen Wind gesprochen. Was Momand nicht wusste in dem Raumschiff: Kurz nach seinem Start hatte der afghanische Präsident Najibullah eine eintägige einseitige Waffenruhe verkündet, die Menschen sollten wenigstens in diesen Stunden friedlich sein und stolz auf ihren Kosmonauten – und so viele von ihnen später bei seiner Präsentation auch am Straßenrand standen und winkten, Geschosse flogen doch ohne Unterlass. An jenem Tag der beschworenen Zurückhaltung feuerten die Mudschaheddin 48 Raketen allein auf den Kabuler Flughafen. Es gab dort fünf Tote.
Anfang der 90er Jahre kämpften dann verschiedenste Allianzen, jeder gegen jeden im wilden Afghanistan, Morde an Zivilisten sowie das Durchkämmen ganzer Straßenzüge nach dieser oder jener Ethnie waren gang und gäbe. Momand, damals stellvertretender Minister für Touristik und zivile Luftfahrt, nahm 1992 seinen Diplomatenpass, seine Frau Bibigul, seine im Sternenstädtchen bei Moskau geborene Tochter Hila und einen, in der Tat nur einen Koffer und flog nach Deutschland, zu einem Bruder, der hier studierte.
„Eine besonders grauslige Zeit”, sagt der deutsche Astronaut Ernst Messerschmid, mit dem Momand später Bekanntschaft schloss. „Er hätte dort wirklich nicht mehr lange überlebt.”
Nur ein Koffer war es, weil Abdulahad Momand hoffte, die Lage werde sich wieder beruhigen, und er werde zurückkehren können, dorthin, wo er sein Geld auf dem Konto hatte, dorthin, wo auch all das lag, was ihn an den Raumflug erinnerte. Er besaß Rückflugtickets. Doch nichts besserte sich in Afghanistan.
Momand beantragte Asyl. Er gab seine Diplomatenpapiere ab und damit natürlich auch seinen Status. Dafür erhielt er eine Duldung für sechs Monate, mit der durfte er sich nur im Radius von 50 Kilometern bewegen und nicht über seinen Kreis hinaus, was für ihn in Ostfildern bedeutete, dass schon Stuttgart, läppische zehn Kilometer entfernt, tabu war, denn es gehört ja nicht mehr zum Kreis. Die Regelung ist ihm bis heute unverständlich: „Wenn ich ein Illegaler gewesen und durch irgendeinen Fluss geschwommen wäre, dann würde ich die Eingrenzung verstehen. Aber ich bin legal gekommen! Man wusste um meine Geschichte. Und doch wurde ich gefragt: Wer sind Sie? Wo kommen Sie her? Was wollen Sie hier? Das war nicht so einfach für mich.”
Eine Momandsche Umschreibung dafür, dass es seinen Stolz verletzte; und man weiß ja nun schon, so etwas lässt er nicht zu, normalerweise. In Bagram war er einmal von einem sowjetischen Offizier angeschnauzt worden: Du bist nicht rasiert! Da hatte er zurückgerufen: Meine Sache, das geht dich gar nichts an!
Das Beste, das man vollbringt, nutzt einem nichts, wenn es am falschen Ort geschieht
Hier nun aber war Ostfildern, die Fremde, hier galt es, sich zu fügen. Es geschah, dass er einem nach Hause fliegenden Afghanen Briefe an seine Mutter mitgeben wollte, damit sie in Kabul wichtige Dokumente für ihn besorgte. Er hätte zur Übergabe der Schreiben für ein paar Stunden nach Frankfurt gemusst. Nicht möglich, beschied der Polizeibeamte. Da griff Abdulahad Momand zu einem Mittel, das ihm eigentlich widerstrebt, er erklärte, nicht irgendwer zu sein, sondern der erste und einzige Raumfahrer Afghanistans. Das ist für uns ganz uninteressant, entgegnete der Polizist.
Und vielleicht ist dies die Quintessenz aus Momands Geschichte: Dass einem das Beste, was man vollbracht hat, nichts nützt, wenn es am falschen Ort oder unter falscher Flagge geschah, denn die Erde, die ist nun mal kein Ganzes und wird auch nie eines werden.
„Er flog ja mit den Russen”, sagt Ernst Messerschmid, jetzt Professor für Astronautik an der Uni Stuttgart. „Ich kannte ihn im Grunde nur vom Namen.”
Momand wiederum scheute sich, seinen Kollegen direkt anzusprechen und um Hilfe zu bitten. Er schickte eine Verwandte vor. Er sprach ja damals auch kein Wort Deutsch. Bei den ersten Treffen der beiden übersetzte Messerschmids Frau, eine Russischlehrerin. „Ich richtete ihm dann einen Arbeitsplatz in meinem Institut ein, und ein Assistent unterwies ihn in Computertechnik”, sagt Ernst Messerschmid. „Ich riet ihm auch, die jährlichen Konferenzen der Astronauten zu besuchen, um weitere Kontakte zu knüpfen. Einmal erschien er, aber dabei blieb es. Alles verlief im Sande.”
„Weil er diese Mischung aus Schüchternheit und Stolz hat?” – „Sicher. Vielleicht war er auch enttäuscht von sich.” Er hatte ja gesehen, welche Karrieren andere Raumfahrer machten, selbst andere aus dem Osten, von denen keiner sein Heimatland verlassen musste. Momand, so deutet Ernst Messerschmid an, hatte gehofft, hier wieder fliegen zu können. Aber ein Militärjet, das war klar, würde ihm im Westen nicht anvertraut werden, und um ins Cockpit eines Zivilflugzeugs zu gelangen, hätte er noch perfekt Deutsch und Englisch lernen müssen.
Er suchte sich die Arbeit, aus der er nun ein Geheimnis macht. Natürlich kann man recherchieren, was für eine das ist, es fällt nicht schwer. Aber man wird den Teufel tun und es schreiben, denn so ehrenwert der Job ist, den er tagaus, tagein verrichtet – dass er nicht darüber reden will, erklärt schon mehr, als Momand will. Da muss eine Scham sein bei ihm, weil sich alles doch sehr am Boden abspielt, zu tief unterm Gipfel seiner Geschichte.
Manchmal aber, selten, wird Abdulahad Momand deutlich und sogar laut, dann geht es weniger um ihn als um Afghanistan und die Amerikaner und ihre Verbündeten. Er redet gar nicht von den Zivilisten, die immer wieder, und immer irrtümlich, erschossen werden. „Wenn fremde Soldaten in mein Dorf kommen und auf meinen Bruder schießen, ist das nicht so schlimm, als wenn sie ohne meine Erlaubnis mein Haus betreten und meine Frau, meine Tochter und mich abtasten. Sie respektieren nicht unsere Kultur, nicht unsere Regeln. Sie wollen die Taliban besiegen? Sie züchten nur neue! Wenn ich so beleidigt würde, dann wäre selbst ich bereit, dagegen zu kämpfen.”
Konjunktiv, in seinem Fall die Unwahrscheinlichkeitsform. Abdulahad Momand, eingebürgert in Deutschland im Jahr 2003, ist weit weg vom Kriegsgeschehen und wird es bleiben. Vorm Abschied lädt er an den großen Tisch seiner Stube. Darauf steht ein afghanisches Reisgericht, drumherum sitzen seine Frau und seine drei Kinder, die akzentfrei Deutsch sprechen. Hila berichtet, sie werde bald studieren. Man fragt, was das denn für Reis sei, so einen, ohne Schmeichelei, habe man noch nie gegessen. Bibigul schleppt einen Zehn-Kilo-Beutel heran, damit man sich die Aufschrift merken kann, Golden Pamir, Pakistan, und Abdulahad verfolgt es mit dem Schweigen desjenigen, der weiß, dass er die Dinge, die geregelt werden mussten, geregelt hat.
Mister Universum
Die Analyse zum Text steht ausnahmsweise nicht hier, sondern im Lehrbuch „Storytelling für Journalisten“. Weil der Text so stark und so exemplarisch ist, ist er hier im Volltext zu lesen.
Autor
Birk Meinhardt
Birk Meinhardt wurde 1959 in Berlin-Pankow geboren und studierte Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig.
Als Sportredakteur arbeitete er bei der Wochenpost, der Jungen Welt, dem Tagesspiegel und der Süddeutschen Zeitung. Ab 1996 war er Reporter der Süddeutschen Zeitung und schrieb aktuelle Reportagen für die Seite Drei sowie zahlreiche Streiflicht-Kolumnen. Seit 2012 widmet sich Birk Meinhardt ganz der Literatur.
Für seine Arbeit Alle sind wir da, bis auf Erich Honecka in der SZ wurde er 1999 mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. 2001 erhielt er erneut den Egon-Erwin-Kisch-Preis, diesmal für die Reportage Vom Glück, das rechte Wort zu treffen. Sein 2013 erschienener Roman Brüder und Schwestern. Die Jahre 1973-1989, eine in der thüringischen Provinz spielende Familiensaga, wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse 2013 nominiert. Die Fortsetzung, Brüder und Schwestern Die Jahre 1989-2001, erschien 2017.
Quelle: Wikipedia