Erzählen…
kommt von erzeln, erzellen und bedeutet ursprünglich aufzählen. Die Reihenfolge des Erzählens entscheidet über die Spannung eines Textes oder Beitrags.
Storytelling – wie geht das?
Der erzählenden Journalistin sind viele Mittel recht: bewährte Erzählmuster, ungewöhnliche Perspektiven, radikale Einfühlung, sprachliche, literarische, dramaturgische Mittel. Sie personalisiert, sie emotionalisiert, sie spannt Bögen. Sie sucht Wendepunkte, Schlüsselszenen und Konflikte. Sie macht Anleihen in der Literatur, beim Film oder beim Drehbuchschreiben. Was sie aufschreibt, hat sie recherchiert und überprüft. Sie lügt nicht.
Warum der englische Begriff?
In den USA verabschiedeten sich die „New Journalists“ in den 1960er Jahren vom „bleichen, beigen“ Berichtston und verschrieben sich dem subjektiven und literarischen Stil. Storytelling steht in der Tradition dieses Aufbruchs. Es verdankt dem amerikanischen Journalismus praktisch und theoretisch wesentliche Impulse.
Der deutsche Begriff „Geschichten erzählen“ ist eher mit erfundenen Geschichten und Märchen konnotiert. Genau darum – ums Erfinden – geht es nicht. Ein alternativer Begriff zu „Storytelling“ ist „narrativer Journalismus“ von lateinisch „narrare“, „erzählen“ – oder einfach „erzählender Journalismus“.
Was ist typisch für eine Story?
Die Geschichte lässt Leser teilhaben an einer Entwicklung. Sie findet den Anknüpfungspunkt, den Ansatz, der Leser die Relevanz des Themas spüren lässt .
Eine Geschichte hat eine Handlung, eine innere oder eine äußere. Am Schluss ist etwas anders als am Beginn. Ein Held scheitert oder erreicht sein Ziel. Oder die Reporterin hat etwas verstanden, was sie vorher nicht wusste. Die Geschichte erzählt vom Zusammenhang zwischen Anfangs- und Endzustand.
Ist Story gleich Reportage?
Die Reportage will ihre Leser miterleben lassen, sie teilhaben lassen an einem Geschehen, gedanklich und emotional. Storytelling teilt diese Intention. Die Werkzeuge des Storytelling sind aber nicht auf bestimmte journalistische Genres beschränkt. Alle subjektiven Formen wie Feature, Essay, Porträt und ihre Mischformen können mit Mitteln des Storytellings gestaltet werden. Selbst Nachrichten und Berichte können Story-Elemente enthalten und werden dadurch verständlicher und anschaulicher.
Ist Storytelling alter Wein in neuen Schläuchen?
Die Rezepturen zum Herstellen wundervoller Geschichten sind mancherorts in Vergessenheit geraten. Sie sind alt: Die „Poetik“ des Aristoteles existiert schon 2300 Jahre, ein Erzählmuster wie die Heldenreise noch viel länger. Und obwohl die Rezepturen so bekannt sind, gibt es mehr langweilige als packende Texte in unseren Gazetten, und mancher Lokalteil verdient das Urteil „altbacken“ (O-Ton eines Redaktionsleiters über sein eigenes Blatt). Alter Wein könnte da belebend wirken.
Was heißt dramatisieren?
Es geht darum, bildhafte oder emotionale Momente in einem Thema aufzuspüren, spannende Zugänge zu entdecken und zu nutzen, um ein Thema interessant zu machen. So werden Leser verführt, sich auch mit Hintergründen und Zusammenhängen zu befassen. Dramatisieren heißt auch Bögen spannen, die einen Text zusammenhalten und die Leserinnen und Leser bis ans Ende führen.
Wie geht das?
Jedes Thema, jeder Verein, jede Sitzung birgt eigene ungewohnte, unbekannte, faszinierende Aspekte. Die MindMap des Aristoteles zum Beispiel ist ein Instrument, mit dem das Potenzial eines Themas untersucht werden kann. Man prüft systematisch mögliche Hauptpersonen, mögliche Orte, mögliche Handlungen oder Entwicklungen, die im Zusammenhang mit dem Thema eine Rolle spielen können. Und entscheidet sich für den Zugang, der sich am besten vermitteln lässt, der Neues bietet, der den Geist der Leser kitzelt.
Was ist die Storykurve?
Steigen Sie mit einem Höhepunkt in die Geschichte ein, und zwar ohne Vorrede und Einleitung. Liefern Sie dann die notwendigen Informationen und steigern Sie dann bis zum nächsten Höhepunkt. Wenn Sie am Anfang so viel Neugier wecken, dass die Leser bis zum Kern der Geschichte folgen, und das Ende lesen wollen, haben Sie es richtig gemacht.
Worauf muss ich achten, wenn ich erzählen will?
Sie müssen fokussieren: Was wollen Sie sagen? Wem wollen Sie es sagen? Was ist Sinn und Funktion Ihres Textes? Darauf müssen Journalisten sowieso immer achten. Eigentlich. Dann kommt es darauf an, schon vor und während der Recherche nach geeigneten Helden, Protagonisten und Perspektiven, Handlungen, Orten zu fahnden. Nach Entwicklungen oder für das Thema charakteristischen Details. Das alles sind mögliche Ingredienzien für den Bau einer guten Geschichte. Die Frage nach der Form stellt sich die Erzählerin nicht erst nach der Recherche. Schon in dem Moment, in dem sie das Thema dreht und wendet, entwickelt sie Ideen, wo die Geschichte stecken könnte. Klar kann es anders kommen als gedacht. Dann wird es eine andere Geschichte.
Wie wichtig ist die Sprache?
Ziemlich wichtig. Wenn wir sagen eine Geschichte „berührt“ uns, dann meinen wir meist nicht nur den Inhalt, sondern auch die Tonalität oder den Subtext. Beides vermittelt sich wesentlich über die Wortwahl und den Rhythmus. Geschichten erzählen heißt Inhalt, Form und Sprache gestalten. Die Person und Haltung des Erzählers spürt der Leser in der Sprache.
Was hat Storytelling mit Aristoteles zu tun?
Der griechische Philosoph hat in seiner „Poetik“ ein Grundmuster der Dramaturgie beschrieben, das in Hollywood und den Filmschulen der Welt heute noch gelehrt wird. Es gibt Anregungen auch für das Storytelling. Aristoteles fordert zum Beispiel von einer Handlung, dass sie notwendig Anfang, Mitte und Ende haben müsse. In dieser Folge steckt Veränderung. Eine Situation verändert sich zum Besseren oder Schlechteren.
Ist Storytelling besserer Boulevardjournalismus?
Im Emotionalisieren und Dramatisieren sind Boulevardjournalisten spitze. Trotzdem ist der Nährwert ihrer Geschichten oft unbefriedigend, weil sie sich mit Aufregern zufrieden geben und sie nicht nutzen, um die Geschichte dahinter zu erzählen. Storytelling ist eine Methode, die nicht zwangsläufig zu besserem Journalismus führt, aber zu gut lesbaren und für die Zielgruppe attraktiven Texten. Kommen dazu gründliche Recherche und ein reflektiertes Selbstverständnis unserer Rolle als Journalisten – dann wird Storytelling zu einem überzeugenden Werkzeug von Qualitätsjournalismus.
Kostet es mehr Zeit?
Mit mehr Zeit ist mehr möglich. Mit wenig Zeit ist Erzählen auch möglich. Ich plane, recherchiere und arbeite anders, wenn ich eine Geschichte schreiben will. Ich suche Helden, Orte, Handlungen, ich suche die interessante Perspektive. Wenn ich mit diesem Suchraster von vornherein an mein Thema herangehe, schreibe ich genauso schnell wie für eine andere Darstellungsform. Übung macht den Meister.
Brauche ich mehr Platz?
Zum Erzählen brauche ich nicht notwendig mehr Platz als zum Berichten. Es kommt darauf an, das Wesentliche zu destillieren und mittels eines treffenden Beispiels zu vermitteln. Die Autorin muss entscheiden und gewichten. Bei gleichem Umfang wird der Bericht vollständiger sein, was die Faktenlage betrifft, die Geschichte ist sicher anschaulicher, sie ordnet ein und sagt mehr über die Bedeutung eines Ereignisses.
Wie lernt man Storytelling?
Lesen, hören, schauen. Je mehr Geschichten wir uns einverleiben, umso sicherer wird unser Gefühl für Bögen, für Dramaturgie, für Sprache. Unser Gehirn ist nämlich eine Regelextraktionsmaschine. Wenn es viele Beispiele verarbeitet, leitet es sich Regeln ab. Auf diese Regeln greift es zurück, wenn es eigene Geschichten machen soll. Dieser Lernvorgang läuft unbewusst ab. Deshalb können manche Autoren toll schreiben, aber nicht erklären, wie sie arbeiten.
Wer parallel zum Lesen, Hören, Schauen darüber nachdenkt, wie Storys gemacht sind, kann diesen Prozess unterstützen und beschleunigen.
Warum ist beim Storytelling immer von Helden die Rede?
Mit einem Protagonisten, den uns der Autor interessant macht, gehen wir gern in unbekannte Gegenden. Menschen sind der kürzeste Weg zwischen den Lesern und einem Thema. Die Heldin ist diejenige, durch deren Brille wir schauen, in die wir uns einfühlen, die uns in ihre Welt mitnimmt. Auch wenn sie anders ist, ist sie eine von uns.
Warum sind Geschichten so wirksam?
Wir konstruieren sowohl unser Selbst- als auch unser Weltbild über Geschichten. Geschichten, also Erzählungen über Zusammenhänge, erlauben uns, unserem Leben und Erleben Sinn und Bedeutung zu geben. Wir wollen Handlungen und ihre Folgen verstehen, wir wollen Ursache und Wirkung verstehen. Eine Gesellschaft verständigt sich über ihre Normen und Werte via Geschichten. Geschichten sind Nahrung für Geist und Seele.