Praxisbeispiel Folge 19
Profil: Thomas Schaaf

Nach 14 Jahren bei Werder Bremen verlässt der Trainer den Verein. Eine Ära ist zuende.

Süddeutsche Zeitung, 16.5.2013

Profil: Thomas Schaaf

Nach 14 Jahren bei Werder Bremen verlässt der Trainer den Verein

Ralf Wiegand

Es war einmal ein Mann, der hatte einen Esel, welcher schon lange Jahre unverdrossen die Säcke in die Mühle getragen hatte. Nun aber gingen die Kräfte des Esels zu Ende, sodass er zur Arbeit nicht mehr taugte. Da dachte der Herr daran, ihn wegzugeben. Aber der Esel merkte, dass sein Herr etwas Böses im Sinn hatte, lief fort und machte sich auf den Weg …“

So beginnt das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, und so ähnlich muss es sich jetzt zugetragen haben mit dem Trainer Thomas Schaaf. 14 Jahre hatte der nun 52-Jährige unverdrossen bei Werder Bremen Dienst geschoben, hat aus den wenigen Möglichkeiten maximalen Erfolg erzielt, aber zuletzt hatte sich etwas zusammengebraut. Der Erfolg blieb aus. Der alte Schaaf wirkte müde, und er merkte, dass seine Herren etwas Böses im Sinn hatten. Da packte er nach 14 Jahren seine Sachen, verabschiedete sich bei den Angestellten des Vereins und bei der Mannschaft und machte sich auf den Weg. Einfach so. An einem Mittwochmorgen. Vier Tage vor Saisonende. Im Fußball heißt das dann „einvernehmliche Trennung“.

41 Jahre war Schaaf in dem Verein, für den er schon als Kind spielte, dessen Amateure er trainierte, mit dem er als Spieler und als Trainer Meister und Pokalsieger wurde. Einundvierzig Jahre bei demselben Klub: Endlich darf in dieser Hire-and-fire-Branche mit Fug und Recht behauptet werden, dass eine Ära zu Ende ist.

Und sofort legte sich eine seltsame Melancholie über die Stadt. Fußballfans, die sich in den letzten, sportlich quälend erfolglosen Wochen noch die Köpfe heiß geredet hatten darüber, ob es nun doch endlich mal an der Zeit sei für einen neuen Mann auf der Trainerbank ihres Lieblingsklubs, fühlten sich plötzlich wie Verräter. Sind sie schuld daran, dass er weg ist, weil sie nicht mehr zu hundert Prozent sicher waren, er würde es noch mal wuppen und Werder zum Erfolg führen? Geht da jetzt nur ein leitender Angestellter – mit einer anständigen Abfindung, da sein Arbeitsvertrag ja noch ein ganzes Jahr Gültigkeit hatte – oder geht da was kaputt?

Zur Vereinskultur, sogar zum Markenkern von Werder Bremen gehören Begriffe wie Treue, Vertrauen und Loyalität, die an vielen Standorten des Fußballgeschäfts Fremdworte sind. Verkörpert wurde das alles durch den gebürtigen Mannheimer Schaaf, der in den Jahren an der Weser bremischer wurde als viele Bremer. Die hängen sehr an ihrer Stadt, sie träumen zwar davon, irgendwo anders könnte es größer, aufregender, mondäner sein – aber dann begraben sie diesen Traum wieder unter der wohligen Decke ihrer kleinen, heimeligen Stadt, in der sie, gemessen an den Möglichkeiten, doch auch ganz gut leben können. Schaaf hat das mit ihnen geteilt, sie stolz gemacht auf die kleine, wackere Stadt. Er hat keines der Angebote angenommen aus der großen, aufregenden, mondänen Fußballwelt. Er hat die Säcke geschleppt, unverdrossen. Bis sie einander müde waren.

Analyse

Die Illustration von Brigitte Seibold zeigt den Aufbau des Kommentars in fünf Bildern: 1. Der Einstieg mit dem Märchen im Original 2. Ausdeuten der Analogie zwischen dem Schicksal des Esels und dem von Thomas Schaaf 3. Das Singuläre: Schaafs 41 Jahre bei Werder Bremen 4. Die Fußballfans und ihre Gemütslage 5. Das kleine, heimelige Bremen und der zugereiste Bremer Thomas Schaaf. Zeichnung von Brigitte Seibold: www.prozessbilder.de

Märchenstimmung

Dem erschöpften Esel geschieht Unrecht, Undank ist sein Lohn. Er flieht, trotzig und stolz. Die Emotionalität des Kommentars überrascht. Das macht das Märchen. Seine Tonalität wirkt mächtig, der Einstieg färbt die Lesart des Textes bis zum Schluss. Dafür sorgt Ralf Wiegand, indem er den Duktus des Märchens weiterführt, wenn er über Thomas Schaaf, die Fans und die Bremer spricht.

Was wirkt

Warum ist der kurze Text zu einer eher unwichtigen Personalie so anrührend? Er verhandelt Fragen, die alle bewegen, Fußballfans und Fußballabstinente, grundsätzlich und immer wieder neu. Wird mir Treue gedankt? Ist das Leben gerecht? Wird meine Leistung gesehen? Wird sie belohnt? Darf ich müde werden? Gehöre ich dann noch dazu? Muss ich, soll ich davonlaufen, wenn ich nicht mehr geschätzt werde? Das Märchen bringt das Allgemeine am Beispiel Thomas Schaaf zur Sprache.

Das Märchen als Deutungsmuster

Im Märchen sind existenzielle Fragen zugespitzt und verdichtet. Märchen, Mythen, biblische Erzählungen bilden den Geschichtenvorrat unserer Kultur. Wer Geschichten erzählt, schöpft aus ihren Deutungsmustern, bewusst oder unbewusst. Schimmert so ein archaisches Muster durch einen Text, weckt es Assoziationen, es erzeugt Resonanz. Wenn das alte Muster 1:1 da steht, gilt das erst recht. Alte Muster geben jungen Geschichten Kraft.

Echt alter Tobak: Die Bremer Stadtmusikanten

Die Brüder Grimm veröffentlichten das Märchen 1819 zum ersten Mal in der zweiten Auflage ihrer „Kinder- und Hausmärchen“. Der Stoff ist viel älter und wurde in ungezählten Variationen und vielen Kulturen überliefert. Der Märchenforscher Walter Scherf schreibt, das Motiv der Tiere auf Wanderschaft, die ihren Platz suchen oder sich bei ihren undankbaren Besitzern rächen, gehe vermutlich auf Fabeln zurück. Fabeldichter wiederum hätten häufig auf „Volkserzählstoffe“ zurückgegriffen. Vorläufer der Geschichte von den Stadtmusikanten findet Scherf beim Meistersinger Hans Sachs um 1551, bei dem Perser Diya o’d-Din NahSabi um 1300, der Genter Magister Nivardus um 1148 und in einer altindischen Sammlung um 300 n. Chr.

Der zweite Kommentar

Am 16.5.13 schrieb Ralf Wiegand zwei Kommentare über den Abschied von Thomas Schaaf. Der zweite stand im Sportteil seiner Zeitung, Darin begründet er die Notwendigkeit einer Trennung. Er kommt zu dem Schluss: „Schaaf hätte sich verändern müssen. Er hätte Kompetenzen ab- und Loyalitäten aufgeben müssen, und vor allem hätte er Vertrauen zu Menschen aufbringen müssen, die nicht wie er 41 Jahre im Verein sind. Man hatte das Gefühl, dass er dieses Vertrauen nicht hat.“

Kommentar eins, der Romantische, der mit dem Märchen, deutet das Phänomen „Schaaf und Werder“ für alle Leser. Kommentar zwei, der Analytische, erklärt die Dynamik der Entwicklung bei Werder für Fußball-Interessierte.

Storytelling – Kriteriencheck

Erzählen im Kommentar – klar geht das. Das Profil auf der Meinungsseite der Süddeutschen enthält die wesentlichen Merkmale von Storys. Es gibt eine Entwicklung, ein Vorher-Nachher. Vorher war Thomas Schaaf Trainer und Legende bei seinem Verein, nachher war er draußen. Vorher waren die Fans im Zweifel, ob Schaaf vielleicht doch gehen solle, nachher waren sie schuldbewusst und traurig. Der Text hat Helden, abschnittsweise: der Esel, der Schaaf, die Fans. Ort ist jeweils Bremen. Es gibt eine äußere Handlung (Schaaf packt seinen Ranzen) und eine innere (Fans verfallen in Melancholie und Selbstzweifel).

Autor

Ralf Wiegand

Ralf Wiegand lebt bei Bremen. Er war sieben Jahre lang der Werder-Mann beim Weser-Kurier, bis ihn 1997 die Süddeutsche Zeitung als Sportredakteur nach München lockte. Ab 2003 war er als Korrespondent in Hamburg zuständig für Norddeutsches in der SZ, seit 2012 ist sein Titel „innenpolitischer Reporter“. 1988/89 hat er in seiner Geburtsstadt Tauberbischofsheim bei den „Fränkischen Nachrichten“ volontiert.

Herr Wiegand, wie kommt das Märchen in die Zeitung?

Als ich erfahren habe, dass ich das Profil zu Thomas Schaaf machen soll, wusste ich, dass ich die Sache überhöhen muss, weil das Profil auf der Meinungsseite steht und keine Sportkolumne ist. Man muss den Menschen und die Sache auch Lesern nahebringen, die sich normalerweise gar nicht in den Sportteil verirren. Da dachte ich, guck doch mal, ob das irgendwie geht mit den Stadtmusikanten.

Und es ging.

Ich hab mich schon gefragt: Ist das zu platt? Da es aber nicht nur um die Tieranalogie im Namen geht, sondern um die Fabel, hab ich mich dafür entschieden. Ich hab das Märchen rausgesucht – ich wusste gar nicht, wie viele Fassungen es gibt – und gleich den ganzen Einstieg übernommen. Er passt ja voll auf die Situation.

Sie hatten das Märchen genau im Kopf?

Ich habe einen dreijährigen Sohn, dem die „Bremer Stadtdidi“, wie er sie nennt, wahnsinnig toll gefallen. Von daher hatte ich die sowieso im Kopf. Und ich fand einen ganzen Märchenabsatz auf Seite vier der SZ sehr reizvoll.

Was leistet das Märchen für Ihren Text?

Über das Märchen lässt sich die Trennung schön erzählen, und auch wie die Leute zu dem Verein stehen und wie Bremer so funktionieren. Warum zwei Trainer hier so lange bleiben können, der eine 14 (Thomas Schaaf, d. Red.), der andere 15 Jahre (Otto Rehagel, d. Red.). Das gibt es sonst nirgends. Man fühlt sich zueinander gehörig. Niemand hat gesagt: „Schaaf soll gehen!“ Sie waren einander überdrüssig und niemand wollte es aussprechen. Und in diesem Moment, wo es passiert ist, sagen die Leute „irgendwie bin ich erleichtert, aber irgendwie bin ich auch traurig“. Diese Stimmung wollte ich zeigen.

Sie trauen sich was! Sie erklären wie Bremer funktionieren…

Ich traue mich das, weil ich die Stadt wirklich kenne. Ich habe lange hier gelebt und hochemotionale Situationen miterlebt. Im Sport den Triumph und die Freude, als Werder 2004 Pokalsieger und Meister wurde – mit Thomas Schaaf. Ich war im Fall Kevin vom Tatort bis zum Gerichtsurteil dabei, oder als die Frühchen gestorben sind, bei allen Wahlen, beim Abschied von Henning Scherf. Deshalb traue ich mich, so ein rotziges Urteil hinzuschreiben. Wo es geht, nutze ich solche Spielräume ganz gern, um auch mal ein bisschen zu provozieren. Das geht bei uns zum Beispiel im Profil und im Sport-Kommentar.

Welches journalistische Selbstverständnis zeigt sich da?

Im Prinzip finde ich den Vorgang unwichtig. Wenn ein Trainer entlassen wird, ist das unwichtig. Nun fragt man sich: warum reden trotzdem alle drüber? Dann versuche ich zu erklären, warum das doch ein wichtiger Vorgang sein kann für eine Stadt wie Bremen. Wie fühlt sich das eigentlich an? Das ist eine Frage, die ich mir oft stelle, über die ich gerne lese, und dann schreib ich es auch gerne auf.

Sie sind dann ein Phänomene-Erklärer?

Ja. So kann man das nennen. Wenn da etwas ist, was man als Phänomen identifizieren kann – dann versuch ich das zu erklären. In der komplett echtzeit-online-digitalen Welt, in der wir Zeitung machen, finde ich es besonders wichtig, Geschichten zu erzählen, die noch nicht tausendmal erzählt wurden. Oder sie weiter zu erzählen an einem Punkt, wo alle andern schon aufgehört haben, wo die Kamera abgeschaltet ist und kein Online-Kollege mehr rumsteht. Und damit werden die Texte auch weicher.

Ist es das, was Zeitungen künftig leisten müssen?

In dem Moment, in dem ich mich von den Fakten lösen kann, weil sie entweder schon bekannt oder woanders verfügbar sind, ist es erlaubt und auch Pflicht, an die Geschichte auch unsachlicher heranzugehen, sentimentaler von mir aus auch, vorausgesetzt, dass zu der Nachricht eine gefühlte Ebene kommt, die relevant ist, die nicht erfunden und nicht Selbstzweck ist.

Woher wissen Sie, was es zu erzählen gilt?

Wenn eine Geschichte auf mich zukommt, beherrscht sie mich ziemlich schnell in Gedanken. Bis ich dann am Computer sitze hab ich den Kern, den ich aufschreiben will, schon im Kopf. Das hilft mir wahnsinnig. Das kann ein harter Kern sein, also Fakten, oder ein weicher, ein Gefühl. Es gibt ja Situationen, die mich auch persönlich anfassen. Wenn man einen Anruf kriegt und erfährt, Robert Enke hat sich vor den Zug geworfen, und fährt dann 60 Minuten durch die dunkle Lüneburger Heide Richtung Hannover, und kommt an einen Vorstadtbahnhof und erlebt diese unglaubliche Emotionalität und Trauer, dann ist das gelaufen, dann sollte man das Gefühl zulassen und versuchen, es aufzuschreiben.

Das Gespräch führte Marie Lampert.