Wo Windräder stehen, kann der Nikolaus nicht landen
Ein (emotionales) Plädoyer für erneuerbare Energien, aber gegen einen Windpark zwischen Laubach, Grünberg und Mücke
Von Burkhard Bräuning
Ich sage es gleich vorweg, denn es ist die immer gleiche Frage, die sich derjenige anhören muss, der auch nur ein kritisches Wort gegen Windkraftanlagen sagt: Nein, ich möchte nicht neben einem Atomkraftwerk wohnen. Ich habe auch nichts gegen Windräder. Erneuerbare Energien haben Zukunft, ganz sicher. Aber es muss Grenzen geben, nicht auf jedem Hügel darf eine Windmühle installiert werden. In Hessen gibt es rund 90 Windparks, ein Viertel davon wurde im Vogelsbergkreis errichtet. Von den insgesamt rund 600 Windrädern stehen laut Wikipedia 180 im VB-Kreis, das sind 30 Prozent aller Mühlen. Viele wurden auf den Westhängen des Vulkangebirges errichtet. Wir im Seenbachtal haben sie direkt vor Augen. Manchmal, tagsüber, nimmt man sie gar nicht recht wahr. Aber schlimm ist es abends und nachts, wenn die roten Warnlichter angehen. Fährt man zum Beispiel von Gießen kommend auf der B 49 Richtung Grünberg, dann hat man kurz vor der schönen Kleinstadt den Eindruck, als nähere man sich der innerkoreanischen Grenze. Der gesamte Vogelsberg blinkt! Schön ist das nicht, eher gespenstisch, unheimlich.
Neue Einnahmequellen
Nun also, so war schon mehrfach in dieser Zeitung zu lesen, wollen auch Laubach und Grünberg ihren Beitrag für eine Energiewende leisten. Die Gemarkungsgrenzen von beiden Städten stoßen im Osten an den Vogelsbergkreis. Die Laubacher Stadtteile Altenhain und Freienseen und die zu Grünberg gehörenden Dörfer Lardenbach, Klein-Eichen, Weickartshain und Stockhausen sind Vogelsberggebiet, auch wenn die Autofahrer dort GI auf ihrem Autokennzeichen haben. Die Parlamente in Grünberg und Laubach sind für das Projekt, die Bürgermeister auch. Die Städte sind klamm, sie brauchen das Geld. Ich habe Verständnis dafür, dass sie sich nach neuen Einnahmequellen umschauen. Dass die OVAG investiert – eine nachvollziehbare und sicher aus betriebswirtschaftlicher Sicht richtige Entscheidung.
Wald wird plattgemacht
Aber viele Menschen im Seenbachtal haben starke Bedenken. Besonders in Weickartshain frischt der »Gegenwind« auf. Manche Bürger befürchten unter anderem, dass ihre Immobilien an Wert verlieren. Ich habe ein ganz anderes, aber ein nicht minder egoistisches Argument gegen die Windkraftanlagen auf den vorgesehenen Flächen: Mir und vielen anderen Menschen wird ein Stück Heimat genommen.
Den Wald zwischen Stockhausen, Weickartshain, Lauter und Laubach kenne ich in- und auswendig. Ich habe ihn morgens, mittags, abends und auch nachts durchstreift, im Sommer, im Herbst und im Winter. Im Frühjahr ist es dort besonders schön. Es gab eine Zeit, da bin ich täglich auf den Hügel nördlich von Weickartshain gestiegen. Immer abends. Mit unserem Hund. Auf dem gesamten Plateau hat man einen wunderbaren Blick auf Vogelsberg, Ohmtal und Wetterau. Und man schaut auf die bewaldeten Hügel, die auch meine Stadtväter gerne als Standorte für Windräder hergeben möchten. Ich wurde nicht gefragt, ob ich das möchte. Warum auch. Ich bin nicht wichtig. Aber was ich mir wünsche: Dass die Politiker uns die ganze Wahrheit sagen. Ich will ihnen nicht zu nahe treten, aber vielleicht fehlt ihnen ein bisschen die Vorstellungskraft, um zu beurteilen, welches Bild sich den Seenbachtalbewohnern künftig bietet, wenn der Windpark kommt. Der Wald wird plattgemacht. Die abgeholzte Fläche soll später zur Hälfte wieder aufgeforstet werden, aber viele Jahre würden wir »im Ernstfall« auf riesige Kahlschlagflächen schauen.
Provinz westlicher Vogelsberg
Ich weiß, man muss Opfer bringen, zumal für eine solch gute Sache wie die Windkraft. Wir im Seenbachtal und im Vogelsberg bringen aber schon viele Opfer. Wir fahren täglich 30, 50, ja bis zu hundert Kilometer zu unseren Arbeitsplätzen, weil es nicht sehr viele Stellen gibt im engeren Umkreis. Wir sorgen dafür, dass der westliche Vogelsberg nicht schon jetzt entvölkert ist. Wir sind weit vom (urbanen) Leben entfernt, dort, wo die Musik spielt. Die Immobilienpreise sind tatsächlich im Keller. Unsere Kinder wachsen behütet auf, aber sie klagen, wenn sie größer werden, über Langeweile: »Hier ist nichts los.« Und wir schauen schon jetzt auf Dutzende Windräder. Wenn die Sonne im Osten aufgeht, dann tut sie das zu jeder Jahreszeit hinter diesen modernen Mühlen. Wir wollen sie wenigstens weiter hinter Bäumen untergehen sehen. Was wir haben an Kombination Technik und Natur, das reicht mir – und vielen anderen Menschen auch. Man sagt uns zwar nicht, wo genau die Räder einmal stehen sollen und wie viel Wald fallen wird. Politiker aus der Kernstadt sind der ganzen Wahrheit aber näher als wir im Seenbachtal. Weil es ja »ihr« Wald ist. Unsere Gemarkung ist nicht betroffen, aber wir sind verdammt nah dran, näher als die Kernstadt. Uns in Stockhausen und Weickartshain werden aber offensichtlich Infos vorenthalten, dabei haben wir die Mühlen vor der Nase. Immer vorausgesetzt, dass die Pläne der Stadtväter wahr werden: Die Grünberger werden von den Windrädern nicht viel zu sehen bekommen. Nur die hinter der Theo-Koch-Schule (TKS), aber da kommt man ja – wenn überhaupt – nur kurz hin, um die Kinder abzuholen.
Im Auenland
Jetzt, vor den Sommerferien, packen viele Eltern an der TKS ihre Kinder ins Auto und düsen mit ihnen ab in den Urlaub – in die Alpen, an die Ost- oder Nordsee, nach Spanien, Frankreich, Italien. Wo man so hinfährt. Oder sie fliegen auf die Malediven, in die USA oder nach Südafrika. Irgendwohin, wo es schön ist. Auf meinem Berg ist es auch schön. Stehe ich abends zur blauen Stunde dort, dann fühle ich mich zurückversetzt in frühere Zeiten. Ich schaue über das Tal südwestlich von Weickartshain. Es ist ein Idyll. Dabei sehe ich übrigens Rotmilane am Himmel – Gabelweihen, wie wir sie auch nennen. Muss ein Trugbild sein, denn die Raubvögel gibt’s da ja seit ein paar Wochen nicht mehr. Sagt man uns. Sind offenbar alle auf Kommando tot vom Himmel gefallen. Aber das nur so nebenbei. Links und rechts des Tales breiten sich die bewaldeten Berge aus, auf denen nun die Windräder platziert werden sollen. Das dritte Feld liegt hinter Stockhausen. Aber da sind ja »nur« vier Mühlen vorgesehen. Kaum der Rede wert also. Außerdem gaaanz weit weg vom Dorf. Die Windräder stehen dort, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen. Wen also interessiert’s? Mich interessiert’s – und andere auch. Der Flecken hat etwas Mystisches, erinnert ein bisschen an das Auenland der Hobbits. Er beflügelt die Phantasie. Wenn man dort die Wege verlässt, dann kann alles passieren. Auch das: Westlich der Fischteiche haben wir vor zweieinhalb Jahren den Weihnachtsmann getroffen. Er kam aus dem Wald. Ganz plötzlich. Mit einem Schlitten. Und er hatte Geschenke dabei, kleine Gaben für unsere Kinder. Dann stapfte er weiter durch den Schnee in Richtung Mücke. Wir waren ein Dutzend Menschen, keiner von uns wird diesen 6. Dezember jemals vergessen. Wenn dort 200 Meter hohe Windräder gebaut werden, wird er nicht mehr landen können, der Nikolaus.
Früher im Vogelsberg
Durch diesen Wald sind wir als Kinder gestreift, kannten dort (fast) jeden Baum, jeden Waldweg sowieso. Wir lagen unter Bäumen im Moos und auf Lichtungen im hohen Gras, schauten auf die Wolken über uns. Wir träumten uns in ferne Welten, schmiedeten Pläne. Ich will nicht, dass dort Windräder stehen. Weiter oben, am »Hölzchen«, haben wir in den 1960er Jahren Heu gemacht. Noch mit dem Holzrechen wurde das Gras gewendet. Ein Blick zum Vogelsberg entschädigte für die Plackerei bei brütender Hitze. Wir pflückten Himbeeren am Waldesrand, spielten in den Büschen Cowboy und Indianer. Bei einem schweren Gewitter flüchteten wir unter den Heuwagen. Nur meine Gote Miele stand oben auf dem Wagen, blickte mit ernster Miene zum Himmel und trotzte Blitz und Donner. Geht man vom »Hölzchen« weiter in Richtung Süden, erreicht man bald den erwähnten Berg nahe Weickartshain, den manche Alten »Koppelhut«, andere »Hohe Stube« nennen. Hunderte Male habe ich diesen Moment erlebt: Ich überschreite den Bergkamm, bleibe stehen, schaue in die Ferne – und staune. Im Südwesten erkennt man bei guter Sicht schnell die Münzenburg, und dahinter erhebt sich majestätisch der Große Feldberg. Wer hier einen Moment verharrt, der sieht nur wenig von den Autobahnen und Straßen, von Dörfern und Städten. Nur die Überlandleitungen stören etwas. Aber Strom will ich ja auch.
Schweigen und staunen
Ich fühle mich dort oben, als wäre ich in eine andere Zeit gereist. Nur Landschaft, die Reste einer Burg – und als passende Geräuschkulisse das Glockengeläut der Weickartshainer Kirche. Ich sehe viel Wald auf sanften Hügeln. Auf denen nun bald Windräder stehen sollen. Manchmal habe ich (enge) Freunde mit hinauf genommen. Wir haben uns auf den Boden gesetzt und geschwiegen, waren beeindruckt von dem Panorama. Meist war ich aber ganz alleine auf meinem Berg. Ab und zu kamen Wandergruppen vorbei. Auch Reinhold, ein sehr naturverbundener Landwirt aus dem Dorf, gönnt sich zur Feierabendstunde manchmal diesen Blick, diese blaue Stunden zwischen Tag und Nacht. Hier oben wächst an manchen Stellen der Basalt aus dem Boden. Wenn es ein heißer Tag war, dann ist der Fels noch[warm. Ich setze mich darauf, schaue, entspanne mich und spüre: Das ist Heimat! Das alles gehört dazu: Der Wald, die Wiesen und Äcker, der Blick über die Wetterau, die Kindheitserinnerungen, die Heuernte, das Spiel und das Zusammentreffen mit dem Nikolaus. Windräder passen nicht dazu. Sie zerstören das Bild.
Farben der Heimat
Die Verantwortlichen, die Vorrangflächen für Windparks ausgewiesen haben, waren sicher schon mal dort oben. Denn sie haben dieses Gebiet nicht in ihre Planung einbezogen. Einige Unternehmen und Politiker der beiden Städte möchten trotzdem gerne bauen. Diese Frauen und Männer waren sicher noch niemals auf »meinem« Berg. Ich lade sie ein, mit mir hinaufzugehen: die Bürgermeister, die Stadtverordneten, die Ortsbeiräte. Um dort mit mir zu schweigen. Einfach mal nichts sagen. Nur den Roten Milan bestaunen, der über dem Wald seine Kreise zieht. Der Sonne beim Untergehen zuschauen. Der Himmel über dem Wald und dem kleinen Tal hat übrigens jeden Abend eine andere Färbung. »Es gibt Milliarden Farben, und jede ist ein eigenes Rot«, singt Grönemeyer. Hört sich verquer an, aber irgendwie hat er recht. Nie das gleiche Abendrot, nie das gleiche Grau, immer ein neues Gelb. Sie glauben mir nicht? Dann gehen sie doch mal einen Monat lang jeden Abend auf diesen Berg. Das dürfte reichen, um Sie zu überzeugen. Danach werden auch Sie Nein sagen zu den Windrädern – und wissen, dass es Milliarden Farben gibt. Sie werden – wie ich – zwar noch immer denken: Windkraft ist gut. Aber nicht überall muss ein Windrad stehen. Ich weiß, es ist vermessen von mir, das zu fordern. Aber viele wissen auch nicht, was ich weiß: Das ist der beste Platz, den wir zwischen Mücke und Laubach haben.
Rundum Mühlen
Kommen die Windräder, dann hat der Hügel jeden Reiz verloren. Er ist dann nur noch ein Ort, an dem mir rundum Windräder die Sicht auf die Natur verstellen. Im Norden sieht man schon jetzt die Mühlen bei Atzenhain, im Osten drehen sich die Räder an den Hängen des westlichen Vogelsberges, und im Süden und Westen schaut man dann auf den neuen Windpark. Ich bin sicher, dass viele Menschen im Seenbachtal und in Laubach auch so einen Ort der Stille auf einem Berg haben. An dem sie spüren, dass sie hier zu Hause sind. Und dort stehen sie dann vielleicht wie ich und schauen in die Ferne. Vielleicht fühlen sie auch so wie ich. Wenn es so ist, dann sollten sie laut sagen, was sie denken.
Ein magischer Ort
Meine Meinung: Windräder hinter dem Ramsberg sind ein Sakrileg. Windmühlen nahe dem »Hölzchen« zerstören einen magischen, einen traumhaft schönen Ort. Mag sein, dass Laubach das Geld braucht. Es muss andere Quellen geben. Beide Städte werden nicht reich mit den Mühlen. Aber wir alle verlieren ganz viel. Vor allem ein wunderbares Stück Heimat. An die roten Warnlichter im Vogelsberg werde ich mich (vielleicht) gewöhnen. An einen Windpark Laubach/Grünberg sicher nicht.
Gewagt und gewonnen
Das Wagnis
Burkhard Bräuning bricht eine Konvention. Er nimmt sich eine ganze Seite für seine Meinung, seine Gefühle, seine Erinnerungen und schreibt radikal subjektiv gegen noch mehr Windräder auf seinen Hügeln. Das ist nicht der Kommentar eines Leitartiklers, der abgeklärt über den Dingen steht. Hier verlässt ein leitender Redakteur die Rolle des Beobachters. Er schreibt als Betroffener, als Bürger der Gemeinde. Er macht sich angreifbar.
Leser mitnehmen
Indem der Autor von sich erzählt, weckt er die Bilder seiner Leser. Bilder von Gängen mit Hund oder ohne, abends allein oder sonntags mit Familie, am Vogelsberg oder anderswo. Auch Leser haben Indianer gespielt, philosophische Wanderungen unternommen oder bei der Ernte geholfen. Sie kennen Zwiegespräche und Monologe in der Natur, jeder hat eine Landschaft, die ihm etwas bedeutet und deren Verlust ihn schmerzen würde. Wer keine hat, kann neidisch werden, oder wehmütig.
Wandern durch die Genres
Der Einstieg hat Züge eines Kommentars. Er führt ein in die Konfliktlage, in Gemarkungsgrenzen und benennt Themen wie „Verhältnismäßigkeit“ und „Grenzen“. Mit dem Schlüsselwort „Heimat“ kommt ein weicher Ton in den Text. Der Erzähler besingt Stimmungen, Tages- und Jahreszeiten, Ausblicke und Farben. Kommt kurz zurück zur „Sache“, argumentiert mit Arbeitsplätzen, Straßenkilometern und Immobilienpreisen. Er wandert auf die Hügel zur blauen Stunde, trifft Rotmilane und mystischen Gestalten bis hin zum Nikolaus. Da ist aus dem Kommentar längst eine Liebeserklärung an die Landschaft geworden. Heimat entsteht durch Schauen, Erleben und Wiederkommen. Aus persönlichen Erinnerungen wächst ein Essay über Heimat, und entwickelt sich zum Hohelied des Staunens und der Stille.
Das Ungesagte
Burkhard Bräuning zeigt, wie man über Andacht und Schöpfung schreiben kann, ohne diese Begriffe zu verwenden. Er schreibt konkret über Moos und Lichtungen, über Rottöne und Ausblicke. An den Schluss setzt er einen Begriff mit religiöser Konnotation. Da wirkt er um so stärker: „Windräder hinter dem Ramsberg sind ein Sakrileg.“ Sakrileg? Das ist ein Vergehen gegen etwas Heiliges.
Werte aushandeln
Wenn der Autor von Spaziergängen erzählt, von der Heuernte und dem warmen Basaltstein, sagt er, was ihm wertvoll ist: Landschaft, Heimat, Schöpfung. Er setzt einen Impuls zum Aushandeln von Werten. Offenbar hat er damit den Nerv der Leser getroffen. Von deren Reaktionen spricht er im „Making of“.
Der Kognitionspsychologe Jerome Bruner hält Geschichten für „besonders brauchbare Instrumente sozialen Aushandelns“, weil sie davon erzählen, was die Dinge für die Protagonisten bedeuten. (Darüber schreibt Bruner in „Sinn, Kultur und Ich-Identität“). Aus der Resonanz der Leser kann man folgern: Geschichten in Lokalzeitungen sind besonders brauchbare Instrumente sozialen Aushandelns.
Storytelling-Check
Held, Ort und Handlung: Der Autor erforscht seine Gründe für den Widerwillen gegen noch mehr Windräder zwischen Laubach, Grünberg und Mücke und lässt die Leser an diesem Prozess teilhaben. Der Fokus liegt klar auf dem Prozess des Nachdenkens und Nachspürens, dem Klären eines Zwiespalts: Warum ich, der ich eindeutig für die Energiewende bin, keine weiteren Windräder auf meinen Hügeln will. Die Gegenspieler, Politiker und Unternehmer, bleiben Randfiguren.
Der Autor exponiert sich, seine radikale Offenheit und der Mut zum Gefühl (und sogar zum irrationalen Argument) sind die Kraftquellen seines Artikels. Plastische Landschaftsbeschreibungen und erzählende Passagen (von der Heuernte, dem Nikolaus) machen das Lesen zum Erlebnis.
Post Scriptum: Fühlorte
Burkhard Bräuning erzählt von einem Fühlort, einem Ort, an dem sich das Erleben von Landschaft verdichtet. Der Begriff stammt von einem Professor für Bau- und Siedlungswesen, dem Architekten Wilhelm Landzettel. Er schrieb über Denkmale und Fühlorte und gilt als Vater der Dorferneuerung in Deutschland. Und er war der Meinung, dass man vor der Planung neuer Projekte die Spuren von Fühlorten sichern müsse, dass man die Menschen vor Ort fragen müsse, wie sie ihre Landschaft erleben (ein Hinweis der studierten Landschaftsplanerin Brigitte Seibold).
Autor
Burkhard Bräuning
Burkhard Bräuning, Jahrgang 1957, stellvertretender Chefredakteur bei der Gießener Allgemeinen Zeitung, verheiratet, drei Töchter. Von Hause aus Nachrichtenredakteur im Mantelteil. Als dreifacher Vater aber auch im Dauereinsatz, wenn es um das Erzählen von Geschichten geht. Schottland- und Single-Malt-Fan. Wandert gerne im Vogelsberg und knipst dabei die urige Landschaft.
Herr Bräuning, in Ihrem Artikel haben Sie kundgetan, wie es Ihnen persönlich mit der Aussicht auf noch mehr Windräder geht. Eine ganze Seite für die Befindlichkeit eines Chefredakteurs. Macht man das so bei der Gießener Allgemeinen?
Vor zehn Jahren hätte sich das überhaupt niemand getraut, vor fünf Jahren auch noch nicht. Es geht hier übrigens nicht um Befindlichkeiten des Chefredakteurs. Windkraft ist ein Thema, das die Menschen bewegt. Nicht nur in Mittelhessen. Und wir sind der Meinung – anders als früher – dass wir hier klar Stellung beziehen sollten. Wir als Zeitung oder als Mitarbeiter sind da nicht mehr so zurückhaltend. In der Form war es jetzt ein erstes Mal, so was wie ein Testballon. Was sagen die Leute dazu, wenn ein leitender Redakteur sich eine ganze Seite nimmt, um seine Sicht der Dinge vorzutragen, aus dem Raum, in dem er selbst lebt? Ist das nicht zu sehr Schreiben in eigener Sache? Wie werden das die Leser bewerten? Vor so einer Reaktion hatte ich auch wirklich Angst.
Haben Sie sich in der Chefetage rückversichert?
Ich hab das nicht mit meinen Geschäftsführern abgesprochen, sondern auf eigene Rechnung veröffentlicht, und vorher nur mit dem Leiter der Kreisredaktion geredet. Der sagte: Mach es.
Sind Ihnen die Leser an den Kragen gegangen?
Die Reaktion war verblüffend. Die Leute haben gesagt: Endlich bezieht mal ein Redakteur klar Stellung. Es wurde nicht diskutiert: Warum darf der das. Sondern: Prima, dass der das gemacht hat. Emotion ist ein Thema! Und Heimat ist ein Thema! Ich habe noch nie so viel Resonanz bekommen wie auf diesen Text. Ich treffe immer noch manchmal Leute, die sagen: Der Artikel war der Hammer. Ich hab ihn zweimal gelesen. Und aufgehoben.
Es gab 80 Prozent Zustimmung und 20 Prozent zum Teil harte Kritik, unter anderem von Leuten, die beruflich mit Windkraft zu tun haben. Der Artikel hat eine Lawine an Diskussionen losgetreten. Und das ist natürlich auch eine Aufgabe der Zeitung, so was anzuregen.
Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Erfolg des Testballons?
Ich bin der Meinung, dass wir künftig mehr Themen selbst setzen müssen. Wir leben in einer Stadt mit 80.000 Menschen, in der es eine Menge Probleme gibt. Und wir greifen diese Probleme zu wenig auf. Wir sind mit Sicherheit eine der Städte mit einer der katastrophalsten Ampelschaltungen bundesweit. Sie fahren hier keine 100 Meter, ohne dass Sie vor der nächsten Ampel wieder stehen bleiben. Das müsste zum Beispiel ein Thema sein. Wir fahren als Redakteure durch die Stadt und beschreiben dieses Drama. Es ist bewusst gemacht mit der roten Welle, warum auch immer.
Wir haben auch das Thema Landesgartenschau. Da gibt es Befürworter und Gegner. Die streiten sich sehr. Da müssten wir moderieren und auch klarer Stellung beziehen. Wir müssen Themen setzen, den Leuten eine Basis bieten für eine Diskussion. Sie müssen sich auch in der Zeitung wiederfinden. Auf Leserbriefseiten, in Stellungnahmen der Parteien, solche Formen.
Sie beschreiben Ihre Liebe zur Landschaft, aber auch Ihre Ambivalenzen, in denen sich Leser selbst erkennen können. Einerseits, andererseits.
Das Thema interessiert mich, seitdem es im Vogelsberg Windräder gibt. Ich bin sehr für die Energiewende, schon bevor es die gab, dachte ich, wir müssen irgendwann weg von der Atomkraft. Aber das, was dort geschieht, hat in mir etwas ausgelöst, was es wahrscheinlich bei vielen anderen Menschen in der Region auch ausgelöst hat. Auf der einen Seite ist man für erneuerbare Energien, auf der anderen Seite sieht man, dass Windräder nicht so schön sind und nicht so toll in die Landschaft passen, dass sie Nachteile haben. Aber man will nicht als der gelten, der die Energiewende fordert, aber keine Nachteile in Kauf nehmen will.
Was gab den Ausschlag dafür, die Leser so tief in Ihre Seele blicken zu lassen?
Ich habe den Plan für die neuen Windräder in unserer Zeitung gesehen und gesagt: Das ist zu viel. Habe mich eines Mittwochabends hingesetzt und aufgeschrieben, was aus mir raus wollte. Ich wusste, ich will es emotional halten, und ich wusste, es soll nicht von Fachwissen glänzen, das ich gar nicht habe. Ich kann nur meine Erfahrungen bieten, fünfzig Jahre Leben hier in diesem Gebiet.
Wie haben Sie den Text strukturiert?
Stichworte hatte ich schon die ganze Woche gesammelt. Es gab gewisse Kernpunkte. Und es war auch klar, dass ich nicht ganz auf Polemik verzichten wollte. Ich habe mich auf wenige Zahlen beschränkt, keinen Menschen angerufen, niemanden interviewt. Ich habe mir eine kleine Struktur gegeben und angefangen zu schreiben. Am nächsten Abend hab ich es überarbeitet, dem Kollegen aus der Kreisredaktion gegeben und gesagt: Druck‘s ab. Dann bin ich in den Urlaub gefahren und hab gedacht: Mal sehen, was kommt! Und es passierte ganz viel.
Die stärkste Stelle ist für mich das völlig irrationale Argument mit dem Nikolaus.
Das ist mir erst beim Schreiben in den Kopf gekommen. An diesem 6. Dezember war ich im Wald mit meiner Familie, mit den Kindern und Freunden. Es schneite, alles war weiß, und der kommt da um die Ecke, zieht seinen großen Schlitten hinter sich her, gibt den Kindern ein Geschenkchen und mahnt uns, immer brav zu sein. Dann geht er wieder.
Ich denke, das ist jedem Leser klar, dass das jemand arrangiert hatte. Der Jemand war ich. Zu meiner Überraschung bekam ich selbst eine Gänsehaut, obwohl ich wusste, was kommen würde.
Man könnte denken: Bräuning glaubt noch an den Nikolaus.
Ich glaub nicht an den Osterhasen oder an den Nikolaus, aber find es toll, dass man sich bestimmte Dinge vorstellen kann. Es gäbe ja sonst keine Romane, Filme und Geschichten. Ob so was in einen Zeitungstext reinpasst, ist eine andere Frage. Aber grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Leute so was lesen wollen.
Es gibt da diese alte Geschichte von dem 8-jährigen Mädchen Virginia, die schreibt an den Chefredakteur der New York Sun. Sie fragt ihn, ob es den Santa Claus gibt, und er erklärt ihr in einem Leitartikel, warum man an Wunder glauben muss. Das ist doch schön!
Welche Funktion hat der Nikolaus für Ihren Text?
Der Nikolaus ist ein Bild, mit dem man die Leute in die Geschichte reinzieht. Ich brauchte irgendwas, womit ich Interesse wecke. Wir hatten ja schon Windräder und noch mehr Windräder … das lockt keinen hinter dem Ofen hervor. Aber der Nikolaus und Windräder? Ich habe gehofft, und es hat sich bestätigt: Die Leute wollten wissen, was das miteinander zu tun hat.
Das Gespräch führte Marie Lampert.
Ich danke Burkhard Bräuning und der Gießener Allgemeinen für das kostenfreie Überlassen der Rechte.