Praxisbeispiel Folge 37
Mamour, mon amour

Mamour aus dem Senegal – illegal in der Schweiz – und Lena aus Bern verlieben sich.

Berner Zeitung, 7. Februar 2015

Mamour, mon amour

Am Anfang war es eine Affäre. Als er zum ersten Mal von Heiraten sprach, wurde es ernst. Lenas Liebesgeschichte mit einem Sans-Papiers

Von Dominik Galliker

Im Bett lagen wir. Drüben im Zimmer, sagt Lena. Dunkel wars, spät am Abend, die Vorhänge gezogen. Wir redeten, er auf dem Rücken, mein Kopf lag auf seiner Brust. Über seine Geschichte redeten wir, über Senegal, Italien, über das Asylzentrum in Solothurn, den negativen Entscheid, über die ganze beschissene Situation, sagt Lena *. Ich glaube, drüben, im Zimmer, da hat Mamour das Thema zum ersten Mal angesprochen. Zwei Monate nach dem ersten Kuss, drei, höchstens. Von einer muslimischen Hochzeit sprach er damals. Wie eine kirchliche Trauung, einfach in der Moschee. Der Islam lässt das nicht zu, mit einer Frau zu leben, mit ihr zu schlafen, ohne verheiratet zu sein. Ein Antrag war das nicht. Er hat nicht gefragt, nicht direkt. Er wollte nur spüren, sagt Lena, ob ich mir das vorstellen könnte. Zu heiraten.

Der Teppich ist kariert, schwarz und weiss, und Lena hebt die Zehen an, so, dass sie den Boden nicht berühren. Der Nagellack ist noch nicht trocken. Bern, es ist Montag, 8.20 Uhr, noch knapp 3 Stunden bis zum Termin im Standesamt. Lena sagt: Irgendwie ist das Ganze surreal. Sie sitzt im Wohnzimmer, wo sie Mamour zum ersten Mal geküsst hat. Anderthalb Jahre ist das her. Neben ihr steht ein Becher Kaffee. Edith hat ihn gebracht. Edith, die Trauzeugin, die sich nun den Kamm zwischen die Lippen klemmt. Heute heiraten sie, Lena und Mamour, 4. August 2014. Im Moment, sagt Lena, im Moment denke ich nur: Endlich ist er vorbei, der ganze Stress mit den Papieren.

Ich kann nicht mehr sagen, wie ich reagiert habe, drüben, im Zimmer. Ich weiss es nicht mehr, sagt Lena. Dunkel wars, ich glaube, ich hatte Ferien. Was er gesagt hat, habe ich verstanden, seine Argumente, seine Überlegungen. Es ging ihm um eine religiöse Hochzeit. Ich aber sagte: Entweder wir heiraten auch im Standesamt. Oder wir heiraten gar nicht. Es war Irrsinn, überhaupt darüber zu sprechen, zwei Monate nach dem ersten Kuss. Teilweise hatte ich das Gefühl: Was mache ich eigentlich? Das ist blöd, naiv, was auch immer. Ich brauche Zeit, sagte Lena, drüben, im Zimmer, du musst das verstehen. Und er hat es verstanden. Am Anfang hat er es verstanden.

Halb 9 Uhr. Es klingelt. Anna ist da, die jüngere Schwester von Lena. Mutter ist nervös, sagt Anna. Sie hat gefragt, ob ihr an die Abfallsäcke gedacht habt für den Apéro im Kocherpark. Lena ist die Erste in der Familie, die heiratet. Sie hat zwei Brüder und eine Schwester. Die Eltern fahren Volvo, wohnen in einem Reihenhaus auf dem Land.
Hansjörg, der Vater, sammelt Schallplatten, Beatles und Pink Floyd. Gaby, die Mutter, verbringt viel Zeit mit dem Hund in der Natur. Ja, sagt Lena, an die Abfallsäcke haben wir gedacht. Aber Blasenpflaster brauche ich noch. Falls die Schuhe drücken.

Ich wollte Mamour nicht verführen, damals, sagt Lena, das war nicht meine Absicht, als ich ihn eingeladen habe, zu mir. Wir kannten uns schon länger. Er war lustig. Er hatte die Haare immer zusammengebunden, oben auf dem Kopf. Wie eine Palme. Wir sassen am Tisch, drüben, in der Küche. Zwei Freunde, die an einem Tisch sitzen. Nach dem Essen schauten wir einen Film. Hier, im Wohnzimmer, sagt Lena. Eigentlich wollte ich ihn gar nicht verführen.

Anna lackiert Lenas Fingernägel. Es ist 9 Uhr, 2 Stunden vor dem Termin im Standesamt. Mamour sollte bald zurück sein. Er ist zur Metzgerei gefahren, um das Fleisch zu holen. Lammfleisch. Für die Schweizer wird es Sekt geben, für die Senegalesen Rimuss. Ein gläubiger Muslim trinkt keinen Alkohol, sagt er. So spricht Mamour oft. Wenn du ein guter Mensch bist, wird dir Gutes widerfahren, sagt er. Wenn jeder jeden respektiert, ist die Welt besser. Ça, sagt Mamour, c’est ma religion.

Mamour gehört nicht zu denen, die mit dem Boot übers Mittelmeer gekommen sind. Mamour ist geflogen. Er hatte ein Touristenvisum, 2009, als er in Paris landete. Er war ein Schweisser, der Geld nach Hause schicken wollte. Die Familie, sagt er, ist das Wichtigste überhaupt. Nach einigen Wochen hätte er ausreisen müssen. Doch Mamour blieb, erst in Frankreich, dann in Italien. 2011 setzte er sich in Mailand in den Zug. Er solle bis Chiasso fahren, hatte ihm ein Freund gesagt, er solle zur Polizei gehen, solle Asyl beantragen. Als Mamour vor den Beamten stand, hat er gelogen. Er wusste, als Senegalese hätte er keine Chance. Mamour sagte, er sei aus Guinea, er heisse Mamadou Diallo. Dass Chiasso zur Schweiz gehört, wusste er nicht.

Letzte Nacht, sagt Lena, letzte Nacht hat Mamour nicht viel geschlafen. Gestern Abend sass er vor dem Fernseher. Bis um 1 Uhr sass er noch da, sagt Lena, und Anna lackiert die Nägel. Mamour sagt, Lena sei bereits jetzt seine Frau. Ende Juni haben sie muslimisch geheiratet, in der Moschee an der Hochfeldstrasse. Lena trug ein Kopftuch, sass mit Mamour vorne neben dem Imam. Das Gelübde sprach sie nicht auf Arabisch, sondern auf Deutsch. Seit jenem Tag, sagt Mamour, ist Lena meine Frau. Heute geht es ihm vor allem um eines: um die Papiere.

Mamour blieb drei Nächte, damals, nach dem Essen. Lena ging zur Arbeit, sie ist Lehrerin. Am Abend kam sie nach Hause, und er war da. Eine Affäre, sagt Lena. Nichts Besonderes. Sie gingen spazieren, blödelten rum, und Mamour zeichnete Herzen in den Schnee. Am Wochenende gingen sie tanzen, bis frühmorgens. Mamour kochte zu Hause, putzte, räumte auf. Er betete im Gang, Allahu Akbar, Allah ist der Grösste, auf einem roten Teppich.

Lenas Kleid, weiss und leicht, hängt an der Schranktür, eingepackt in Plastik. 9.20 Uhr, Mamour ist noch nicht da. Lena sitzt vor dem Spiegel im Schlafzimmer. Puder, Wimperntusche, anderthalb Stunden vor der Trauung. Edith will unter den Augen nicht schminken. Sonst verschmierts, wenn du heulst, meint sie. Lena sagt: Ich heule nicht. Endlich ist er vorbei, der Stress mit den Behörden. Neun Monate hat er gedauert. Immer mussten wir uns verteidigen, sagt Lena. Immer mussten wir beweisen, dass wir es ernst meinen. Bald ist er vorbei, dieser Stress. Die Romantik ist auch da. Aber sie rückt in den Hintergrund – so ist das halt, sagt Lena.

Mamour brauchte eine Beschäftigung. Ich kann nicht den ganzen Tag rumsitzen, sagte er. Lena kaufte ihm ein Abo für ein Fitnesscenter. Jeden Tag ging Mamour trainieren, zwei Stunden lang. Und Lena war froh, dass sich Mamour immer gut angezogen hat. Sonst hätten die Bullen ihn längst erwischt, sagt sie. Eine Hochzeit würde alles ändern. Drüben, im Zimmer, da hat er es zum ersten Mal angesprochen. Ich brauche Zeit, sagte Lena, du musst das verstehen. Sie merkte, wie aus der Affäre eine Beziehung wurde. Sie hatten ihren ersten Streit. Bin ich dein Sklave?, hatte er gefragt. Und Lena rastete aus, knallte die Schlafzimmertür zu. Eines Tages stellte sie Mamour ihren Eltern vor. Er kochte senegalesisch, seine Mutter half ihm via Telefon. Du kochst sehr gut, lobte Hansjörg, der Vater. Und Mamour sagte zum Hund: Jetzt bist du nicht mehr der einzige Schwarze in der Familie.

Eine SMS von Tante Silvia. Sie wünscht viel Glück. Meine Mutter hat es allen erzählt, sagt Lena, vor dem Spiegel, im Schlafzimmer. 9.40 Uhr. Mamour sollte längst da sein. Lena ruft ihn an, sagt Hallo, lauscht. A Bienne?, fragt sie. Och. Nach einer Minute legt sie das Telefon zur Seite, verzieht die Miene. Mamour hat noch jemanden abgeholt. Die Zeit wird knapp.

Es gab viele schöne Momente in dieser Zeit, sagt Lena. Brunch bei den Eltern. Zelten am Zürichsee. Übernachten bei Freunden. Oder damals, als Mamour mitkam auf einen Ausritt mit Pferden. Der Monsieur wollte keinen Helm anziehen, sagt Lena. Und doch. Wir konnten es uns nicht leisten, verliebt zu sein wie Teenager. Es ging nicht, nicht in dieser Beziehung. Hansjörg, der Vater, hatte Fragen. Zu Mamours Frauenbild, zu seiner Religion. Er wollte eine Sicherheit. Eine Sicherheit, dass diese Beziehung funktioniert. Die Angst vor der Polizei war auch immer da. Und Mamour sass den ganzen Tag zu Hause, konnte nicht arbeiten. Genervt war er. Gestresst, weil er mit einer Frau zusammenlebte, obwohl er nicht durfte. Weil er seiner Mutter Geld schicken wollte, das er selber aber kaum hatte. Weil er blockiert war. Und Lena sagte immer: Ich brauche Zeit.

9.52 Uhr. Lärm im Gang. Endlich ist Mamour da und mit ihm drei Senegalesinnen. Sie stellen das Fleisch in der Küche ab, die Frauen unterhalten sich in Wolof, der Muttersprache vieler Senegalesen. Lena versteckt sich hinter der Schlafzimmertür. Chéri, ruft sie. Chéri, geh ins Bad. Mamour soll die Braut noch nicht sehen. 9.53 Uhr, eine Stunde vor dem Termin im Standesamt.

Ich muss arbeiten, sagte Mamour. Er kann das nicht. Er kann nicht auf Kosten einer Frau leben, sagt Lena, das geht nicht, nicht in seiner Kultur. Lena hatte alles bezahlt. Miete, Kleider, das Handy. Bis ihr Konto leer war. Sie machten ein Budget, legten zwei Couverts ins Regal. Jeder erhielt 240 Franken Sackgeld pro Monat. Lena gab Mamour 50 Franken davon ab. Für seine Mutter, in Senegal.

Lena zieht ihr Brautkleid an, Mamour steht oben ohne im Bad. Mamour, sagt Edith. 15 minutes. Reicht das? Er cremt sein Gesicht ein, hängt das Duschtuch auf. 15 minutes? Ja, sagt er. Das reicht.

Eine Heirat würde alles ändern. Lenas Eltern zahlten Mamour einen Deutschkurs, 15 Lektionen pro Woche in der Migros-Klubschule.

35 Minuten bis zum Termin. Bitte pack die Zigarre noch ein, sagt Lena zu jemandem. Mamour will sie mit meinem Père rauchen, nach der Trauung. Lena steht im Gang. Zieht einen Ring vom Finger, schiebt ihn wieder drauf. Chéri, ruft sie. Kommst du?

Alles würde sich ändern. Mamours Kollegen machten Andeutungen. Schau zu ihm, haben sie gesagt. Mach den nächsten Schritt.

32 Minuten. Mamour wirft sein weisses Hemd über, zupft die Fliege zurecht. Edith hilft ihm mit den Manschettenknöpfen.

Alles würde sich ändern. Heiraten ist die einzige Möglichkeit. Er sagte es, immer wieder. Die einzige Möglichkeit, die er hatte.

29 Minuten. Mamour findet sein Haarband nicht. Wir kommen zu spät, ruft Lena.

Wie ein Tier im Käfig kam er mir damals vor. Wie ein Tier. Er bohrte nach, immer wieder. Er wusste, er sollte es nicht tun. Er wusste es. Aber er musste. Eine Heirat war seine einzige Möglichkeit. Ich brauche Zeit, sagte Lena, immer wieder. Bis irgendwann alles hochkam. Der ganze Druck, ich hielt ihn nicht mehr aus, sagt Lena. Ich brach in Tränen aus, hier, im Wohnzimmer. Das stresst mich, sagte sie. Ich kann nicht immer wieder darüber diskutieren. Ich kann nicht. Das musst du endlich verstehen. Und Mamour verstand. Dieses Mal hat er es wirklich verstanden.

Chéri? Lena öffnet die Tür zum Schlafzimmer. Mamour steht vor ihr. Anzug, Fliege. Der Bräutigam ist bereit. T’es beau, sagt Lena. Er küsst sie. Für einen Moment stehen sie so da, in der Schlafzimmertür. Alors, sagt Lena. On y va. Die Zeit, sie wird reichen.

Drei Monate lang sprachen sie nicht über eine Hochzeit. Drei Monate, in denen nicht viel passierte, die aber trotzdem entscheidend waren. Weil ich merkte, sagt Lena, wie sensibel Mamour ist. Dass wir Probleme bereden konnten. Dass sie funktioniert, die Beziehung.

Im Bus schauen die Leute. Niemand fragt. Mamour und Lena küssen sich. Beim Hirschengraben steigt die Hochzeitsgesellschaft aus. Sie gehen die Strasse hoch. Vor dem Standesamt warten Freunde, Laupenstrasse 18 A.

Mamour hatte immer gesagt: Wenn sie mich eines Tages erwischen, dann ist es, weil es Gott so wollte. Lena verdrängte die Angst. Sie ging mit Mamour tanzen, ging unter die Leute. Wollte nur nicht allein zu Hause sitzen. Wenn Mamour plötzlich weg wäre – die Polizei könnte ihr nichts sagen. Sie hätte kein Recht, etwas zu erfahren.

Mamour nimmt Lenas Hand, fährt mit dem Daumen über ihre Handfläche. Liebes Brautpaar, sagt die Frau vom Standesamt. Lena und Mamour haben eine kurze Trauung gewünscht. Eine Hochzeit, reduziert auf den gesetzlichen Teil. Man hat so eine romantische Vorstellung, sagt Lena. Und die hatte ich ja auch. Die habe ich immer noch. Aber heute geht es vor allem um die Papiere. In zehn Jahren, sagt Lena, heiraten wir noch einmal. Richtig.

Einmal wachte Lena um 6 Uhr morgens auf. Das Bett neben ihr war leer. Lena rief Mamour an – die Combox. Er sass in einer Bar, damals, hatte keinen Empfang. Und Lena verzweifelte zu Hause. Sie sagte sich: Entweder ich warte und warte, bis Mamour irgendwann gefasst wird. Oder ich mache etwas, um herauszufinden, ob ich diese Heirat will. Sommer 2013. Lena bat um ein Gespräch bei der Beratungsstelle für binationale Ehen.
Gaby, die Mutter, zerknüllt ein Taschentuch in ihren Händen. Hansjörg streicht ihr über den Nacken. Natürlich sind auch Ängste da, sagt Gaby. Aber falls es nicht funktionieren sollte, wäre man ja schnell wieder geschieden. Die Frau vom Standesamt liest aus dem Zivilgesetzbuch vor.

Alles war entweder weiss oder aus Glas im Zimmer der Beratungsstelle. Lena kam sich vor wie beim Arzt. Sie und ihre Mutter sassen da, vor ihnen eine Frau, so um die fünfzig. Lena sagt: Ich dachte, sie würde mir gleich alle Schande sagen. Würde mich für naiv halten, mir sagen, ich solle mir diesen Stress nicht antun. Doch die Frau stellte nur Fragen. Über die Religion. Über einen Ehevertrag. Alles Fragen, die auch ich hatte. Fragen, von denen ich glaubte, eine Antwort zu haben – mir aber nicht sicher war.

Die Frau vom Standesamt redet über Vertrauen. Mamour hält Lenas Hand. In ein paar Minuten ist er kein Sans-Papiers mehr. Einige Leute denken, ich sei naiv, sagt Lena. Aber ich sage: Nein, bin ich nicht. Eine Heirat ist die einzige Möglichkeit. Die einzige, die wir haben, wenn wir zusammen sein wollen. Mamour, wollen Sie die Ehe eingehen, dann beantworten Sie meine Frage mit Ja. Ja, sagt Mamour. Vielleicht leben wir in fünf Jahren getrennt. Vielleicht, sagt Lena. Aber mit der Heirat hat diese Beziehung eine Chance.

Lena zündete sich eine Zigarette an. Sommer 2013, draussen, vor der Beratungsstelle. Das Gespräch war zu Ende. Lena hatte die Bestätigung, die sie brauchte. Ich weiss noch, sagt sie, wie meine Mutter mich angeschaut hat, damals.

Als die Frau vom Standesamt ihre Frage stellt, umklammert Lena Mamours Hand. Lena, wollen Sie die Ehe eingehen, so beantworten Sie meine Frage mit Ja.

Gegrinst hat sie, meine Mutter, vor der Beratungsstelle. Sie hat gegrinst und dann gesagt: Gell. Gell, du willst das schon?

Ja, sagt Lena.

Sorgfältig komponierte Parallelstruktur

Parallelstruktur

Der Autor erzählt in zwei jeweils chronologisch geführten Strängen. 18 Szenen vom Hochzeitstag, 18 Rückblenden. Er wechselt absatzweise. Da ist er ganz streng. Illustration Brigitte Seibold (www.prozessbilder.de)

Die Leser ködern

Lena erinnert sich an den Moment, als sie mit Mamour im Bett liegt und er über eine muslimische Hochzeit spricht. Der Einstieg skizziert die Lebenssituation des Liebespaares und ihre Dramatik. Denn Mamour ist illegal in die Schweiz gekommen, und sein Asylantrag wurde abgelehnt. Seine indirekte Frage nach der Heirat löst den Konflikt aus, der Lena umtreibt. Sie gibt dem Text die Richtung und die Spannung. Lenas Dilemma: Will ich ihn heiraten? Was sagt mein Gefühl, was die Vernunft? Wie höre ich meine innere Stimme angesichts des äußeren Drucks?

Die Form einführen

„Im Bett lagen wir. Drüben im Zimmer, sagt Lena.“ In den beiden Einstiegs-Sätzchen steckt der Keim der Geschichte. Sie enthalten außerdem die Form, die der Autor gewählt hat. Es gibt ein  Zimmer „drüben“, in dem sich in der Vergangenheit wichtige Dinge zugetragen haben. Und es gibt einen zweiten Raum, ein Hier und Jetzt, von dem aus Lena sich erinnert. Die Illustration von Brigitte Seibold zeigt den Bauplan, auf den der Autor seine Leser einstimmt.

Der Wandel der Heldin

Lena ist die Hauptfigur. Sie bereitet sich vor auf den Standesamt-Termin. Sie erzählt, wie sich alles zugetragen hat. Sie vermittelt auch Mamours Erleben und Geschichte. Lena ist diejenige, die einen dramatischen inneren Prozess durchläuft, sie vollzieht einen Sinneswandel durch vom „Nein“ zum „Ja“, der schließlich zum Standesamt führt.

Szenen

Die szenische Handlung umfasst die Chronologie von drei Stunden am 4. August 2014. Sie beginnt um 8.20 Uhr. Lena macht sich fertig für ihre Hochzeit, wird frisiert, geschminkt, zieht sich an. Ab 9.52 Uhr ist Mamour vom Metzger zurück und in den Szenen dabei. Gemeinsam fahren sie mit dem Bus zum Standesamt und sagen „Ja“.

Rückblenden

Die Erzählung in der Rückblende umfasst die Zeit vom näheren Kennenlernen des Paares im Frühjahr 2013 bis zur standesamtlichen Hochzeit im August 2014. Auch die Rückblenden sind chronologisch gereiht: Verführung, Affäre, Zusammenwohnen, Streit, Stress, Fitnessstudio, Besuch bei Lenas Eltern, Geldsorgen, Gespräch in der Beratungsstelle für binationale Ehen. Eine Ausnahme von der Chronologie bildet der erste Absatz. Das Gespräch auf dem Bett, der Moment, der den Konflikt auslöst, steht am Anfang.

Zwei Wendepunkte

Der Spannungsbogen reicht von Mamours Frage „heiraten?“ bis zu Lenas Entscheidung „heiraten!“ Der erste Wendepunkt wird ausgelöst durch den Tränenausbruch Lenas, mit der Folge, dass sie drei Monate lang nicht mehr über die Frage sprechen und sie ohne Druck erleben  kann, dass die Beziehung funktioniert. Der zweite Wendepunkt wird ausgelöst, als Lena nachts verzweifelt auf Mamour wartet und zu dem Schluss kommt „Ich mache etwas, um herauszufinden, ob ich diese Heirat will“. Der Termin in der Beratungsstelle bringt ihr die ersehnte Bestätigung. Beide Wendepunkte liegen im letzten Drittel des  Textes. Das entspricht dem idealen Spannungsbogen, der Storykurve nach Lehrbuch.

Der Bauplan

Der Autor hat den Text in 36 Absätze gegliedert, die einem strengen Muster folgen. Rückblick und  Szene wechseln absatzweise (vgl. die Illustration von Brigitte Seibold oben). Jeder erste Satz eines Absatzes ist gefettet. So fällt ins Auge, dass die Absätze nach der Mitte kürzer werden. Die Zeit läuft, und sie läuft schneller, auch optisch. Das Tempo steigert sich bis zum ersten Wendepunkt. Auf der Ebene des Rückblicks wird der Druck für Lena unerträglich  – und parallel wird in der Szene die Zeit zum Standesamt-Termin knapp.

Das Motiv Zeit

Mamour wartet auf Lena. Lena wartet auf Mamour. Auf beiden Erzählebenen herrscht Zeitdruck. In den Rückblenden drängelt er: „Heiraten ist die einzige Möglichkeit.“ Sie braucht Zeit, um sich klar zu werden. Viermal sagt sie „Ich brauche Zeit“.

In den Szenen wartet sie, bis er endlich vom Metzger zurückkommt und fertig ist fürs Standesamt. Die szenische Handlung ist durchzogen von Zeitangaben. 8.20. Uhr; halb 9 Uhr; 9 Uhr, 9.20 Uhr, 9.40 Uhr, 9.52 Uhr, 35 Minuten bis zum Termin. 32 Minuten. 29 Minuten. Der Countdown findet sein Ende vor dem ersten Wendepunkt, als sie verabreden, nicht mehr über das Thema Hochzeit zu sprechen. Einen Absatz später heißt es: „Die Zeit, sie wird reichen.“

Das Ende

Der letzte Absatz lautet schlicht: „Ja, sagt Lena“. Er ist der Punkt, auf den die ganze Geschichte zuläuft. Die Handlung, die im ersten Absatz in Gang kommt, ist damit abgeschlossen. Schön sparsam ist das.  Glückwünsche, Umtrunk und Party braucht es nicht. Lenas „Ja“ ist im Übrigen ein doppeltes „Ja“. In der Rückblende unmittelbar vor Schluss erzählt sie vom Gespräch in der Beratungsstelle für binationale Ehen. Hier findet sie zu ihrem inneren „Ja“, das sie gegenüber ihrer Mutter ausspricht, als die sie fragt „Gell, du willst das schon?“ Beide Erzählstränge, Rückblende und Szene, münden ins „Ja“.

Autor

Dominik Galliker

Dominik Galliker

geboren 1991 in Luzern, Schweiz, schreibt als Lokaljournalist für die BZ Berner Zeitung. Er hat das MAZ, die Schweizer Journalistenschule in Luzern besucht. „Mamour, mon amour“ ist seine Abschlussarbeit. Seine Multimedia-Version zum Thema wurde mit dem Grimme Online Award 2015 ausgezeichnet.

„Ich wollte zunächst Lena und Mamour gleichberechtigt behandeln und habe lange nach einer Form gesucht. Aber dann fand ich, der eigentliche Wandel  vom „Nein“ zum „Ja“ findet bei Lena statt. Der Kern der Geschichte ist bei ihr. Und deshalb hab ich auf sie fokussiert.

Im Endeffekt ist nur stehengeblieben, was einen Einfluss hat auf Lenas Wandel in der Vergangenheit. Dadurch, dass ich reduziert habe, wird es erst eine Geschichte. Erst dadurch kristallisiert sich der innere Konflikt von Lena heraus.

Wenn ich jetzt an so eine Geschichte rangehen würde, würde ich mir früher überlegen, wie ich das erzählen will, damit das ganze Sammeln des Materials effizienter abläuft.“