Praxisbeispiel Folge 38
Schwanger trotz Chemotherapie

Kryokonservierung. Die wird hier erklärt. Ohne jedes Fremdwort.

Süddeutsche Zeitung vom 29. Mai 2015

Schwanger trotz Chemotherapie

  • 2008 erkrankte Sandra G. aus Nürnberg an Brustkrebs. Sie unterzog sich einer Chemotherapie, zu deren größten Risiken Unfruchtbarkeit gehört.
  • Die Ärzte im Erlanger Uniklinikum wiesen Sandra G. auf die Möglichkeit eines neuen Verfahrens in der Reproduktionsmedizin hin.
  • Vor der Behandlung wurde Eierstockgewebe entnommen, eingefroren und nach der Krebstherapie wieder eingepflanzt. Sandra G. wurde so auf natürlichem Wege schwanger.

Von Katja Auer

Erlangen/Neu-Ulm – Isabel liebt ihren kleinen Bruder. Matías ist der einzige in der Familie, der von ihr Küsschen bekommt, erzählt ihre Mutter Sandra. Dass die Zweijährige vor wenigen Wochen noch ein Geschwisterchen bekommen hat, war nicht selbstverständlich. Denn Sandra G. ist eine medizinische Rarität: Sie ist die erste Frau in Deutschland, die nach einer Brustkrebstherapie unfruchtbar wurde und doch noch zwei Kinder bekam. Die Ärzte am Erlanger Uniklinikum entnahmen der Nürnbergerin vor der Behandlung Eierstockgewebe, froren es ein und pflanzten es nach der Krebstherapie wieder ein. Sandra G. wurde auf natürlichem Wege schwanger. Nun sogar zum zweiten Mal.

„Das ist ein Geschenk“, sagt die junge Frau. Ehrfürchtig und dankbar sei sie, sagt sie, auch wenn sie im Alltag manchmal vergesse, wie außergewöhnlich ihr Schicksal ist. So gut geht es ihr inzwischen wieder. Weil sie anderen Frauen Mut machen will, erzählt sie ihre Geschichte.

Der Knoten in der Brust war bösartig, es folgte Chemotherapie

2008, da war sie 28 Jahre alt, erkrankte Sandra G. an Brustkrebs. Sie hat es gar nicht glauben wollen, erzählt sie, noch nie habe es in ihrer Familie einen Fall von Brustkrebs gegeben. Doch der Knoten war bösartig, es folgten Chemotherapie, Operation, Bestrahlung. Und die Prognose, dass sie vielleicht nie Kinder haben würde. Unfruchtbarkeit gehört zu den größten Risiken der Therapie.

Die Ärzte im Erlanger Uniklinikum wiesen Sandra G. auf die Möglichkeit hin, sich Eierstockgewebe entnehmen und später wieder einsetzen zu lassen. Ohne Garantie freilich. Aber auch ohne größeres Risiko. „Das war der Strohhalm, an den ich mich geklammert habe“, sagt sie. Zuvor hatte sie nie von der Möglichkeit gehört, wieso auch, in dem Alter setzt sich kaum eine gesunde Frau mit solchen Fragen auseinander. Deshalb würden alle Krebspatientinnen im Erlanger Klinikum inzwischen auf dieses Verfahren hingewiesen, sagt der Biologe Ralf Dittrich, der Wissenschaftliche Leiter der Reproduktionsmedizin. Zumindest solche, die jünger sind als 35 Jahre.

„Viele wissen nicht einmal, dass sie nach einer Chemotherapie unfruchtbar werden können“

Bei älteren Frauen wird Eierstockgewebe nur ausnahmsweise entnommen, da die Chance stark sinkt, dass sie noch schwanger werden können. „Aber wir nehmen das nicht ganz genau“, sagt Dittrich. Viele Patientinnen wüssten nichts von der Methode, sagt er, „viele wissen nicht einmal, dass sie nach einer Chemotherapie unfruchtbar werden können.“ Aber während der ganzen psychischen Belastung, die eine Krebsdiagnose mit sich bringe, die ja meistens überraschend gestellt wird, könnte es beruhigend wirken, wenigstens den Kinderwunsch nicht direkt aufgeben zu müssen.

Noch zahlen die Krankenkassen diese Behandlung nicht, sagt Dittrich, dafür wollten sich die Wissenschaftler an der Uniklinik Erlangen aber nun einsetzen. Immerhin sei die Erfolgsquote der Beweis, dass die Methode erfolgreich sei: 21 Frauen sei bis Ende 2013 ihr entnommenes Eierstockgewebe wieder transplantiert worden, sieben davon hätten inzwischen ein Kind geboren. Bis jetzt wurden 39 Frauen behandelt, es werden immer mehr.

Sandra G. hat ihren Matías am Muttertag bekommen. In Neu-Ulm, da sie umgezogen ist. Aber sie hat gleich im Erlanger Klinikum angerufen. „Wir haben uns riesig gefreut“, sagt Dittrich.

So viel Story auf so kleinem Platz

Sandra G. erzählt von ihrem Erleben als Patientin. Ralf Dittrich erläutert das Vorgehen und die Erfolge der Reproduktionsmediziner am Uni-Klinikum Erlangen. Illustration Brigitte Seibold (www.prozessbilder.de)

Gefühlt und gezählt

Gefühlt erzählt der Text das Schicksal von Sandra G., die nach einer Brustkrebstherapie unfruchtbar wurde und doch noch zwei Kinder bekam. Gezählt handeln nur 34 Zeilen von Sandra G.s Geschichte. 46 Zeilen beschreiben die Behandlungsmethode des Uni-Klinikums Erlangen. Was wirkt, ist die Geschichte.

Handlung und Fakten

Das Schicksal von Sandra G. spannt den Handlungsbogen, Katja Auer lässt sie von ihren Erlebnissen und Gefühlszuständen erzählen. Im mittleren, vierten Absatz übergibt sie an Ralf Dittrich, der Hintergründe und Fakten allgemeiner Natur beisteuert und sich in der Schlusskurve wieder auf Sandra G. bezieht. In der ersten Hälfte „sagt“ und „erzählt“ Sandra G. insgesamt sechsmal. Ralf Dittrich „sagt“ viermal. Handlung und Fakten über Protagonisten vermittelt – das schafft Nähe und macht den Text lebendig.

Story – eine Definition

Was macht aus einer Geschichte „ein Ganzes“? Das Ganze ist gekennzeichnet durch Anfang, Mitte und Ende. So will es Aristoteles. Er definiert die Bestandteile des Ganzen, nachzulesen in der „Poetik“:
Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.
Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht.
Ein Ende ist, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise, während nach ihm nichts andres mehr eintritt.
Kurz gesagt ergeben diese drei Bestandteile eine Handlung. Wo keine Handlung ist, ist auch keine Geschichte. In unserem Beispiel geht die Handlung so:
Der Anfang: Eine junge Frau erkrankt an Krebs.
Die Mitte: Die Ärzte entnehmen ihrem Körper Eierstockgewebe und frieren es ein. Sie bekommt eine Chemotherapie und wird unfruchtbar. Ihr Eierstockgewebe wird aufgetaut und ihr wieder eingepflanzt.
Das Ende: Sie wird Mutter, einmal, ein zweites Mal.

Chronologie oder Nicht-Chronologie

Eine Handlung kann demgemäß nur in einem Nacheinander einzelner Schritte ablaufen, folgt also immer einer Chronologie. Die Geschichte dieser Handlung, die Story muss deswegen nicht chronologisch aufgeschrieben werden. Katja Auer erzählt ihre Geschichte von hinten. Sie steigt mit dem Resultat der Handlung ein, mit den Kindern Isabel und Matías. Matías verkörpert die Neuigkeit. Und sogleich ordnet sie die Neuigkeit in den Handlungsablauf ein (die Ärzte entnahmen … und pflanzten wieder ein). Ihr erster Absatz erzählt die Story in der Nussschale. Später, im dritten und vierten Absatz kommt sie ausführlich auf Anfang und Mitte der Handlung zurück.

Die Fakten

Wenn Ralf Dittrich ins Spiel kommt, der wissenschaftliche Leiter der Reproduktionsmedizin am Uni-Klinikum Erlangen, ist die Behandlungsmethode in Grundzügen schon vorgestellt. Wir sind in der Mitte des Textes. Erst jetzt, nachdem Sandra G. uns die Bedeutung und Relevanz des Themas emotional nahegebracht hat, erläutert der Experte Hintergründe und die Erfolgsquote beim Wiedereinpflanzen des Eierstockgewebes. Jetzt kann er auch mit Zahlen kommen. Es könnte gut sein, dass Leserinnen und Leser des Textes von nun an wissen und behalten, dass Chemotherapie unfruchtbar machen kann. Und sich merken werden, dass es ein Verfahren gibt, die Unfruchtbarkeit zu behandeln.

Einfach schreiben, weggelassen

Das Wort „Kryokonservierung“ kommt im Text nicht vor. Katja Auer sagt „Verfahren“ oder „neues Verfahren“, sie sagt Eierstockgewebe, einfrieren, auftauen. Sie verzichtet auf Dittrichs Titel, nennt aber seine Funktion, sie verzichtet auf flüssigen Stickstoff, die laparoskopische Retransplantation und das Nennen weiterer Beteiligter, Ärztinnen, Ärzte und eine technische Assisstentin. Das alles findet man in der Pressemitteilung des Uni-Klinikums Erlangen vom 29.5.15.

Exkurs: Die Pressemitteilung des Uni-Klinikums

Johannes Eissing, Pressesprecher des Uni-Klinikums Erlangen, beginnt seine Mitteilung ebenfalls mit Sandra G. und Matías. Erst dann lässt er seine Spezialisten ausführlich zu Wort kommen. Personalisieren ist auch für ihn der Schlüssel zur Zielgruppe. Patientinnen und Patienten, deren Behandlung Neuigkeitswert verspricht, begleitet er nach Möglichkeit über längere Zeiträume und sorgt auch gleich für Fotomaterial. Auf diese Weise kann er Handlungen aus der Perspektive von Patienten anbieten. Katja Auer allerdings hat seine PM nicht gelesen. Sie holt sich lieber ihre eigenen Informationen und Eindrücke. Ihr Online-Artikel erschien einen Tag vor der Pressemitteilung.

Die Tonalität

Liebe, Küsschen, Dankbarkeit. Emotionen geben den Ton an. In Sandra G. kann man sich einfühlen. In den Schock der Diagnose, ihre Befürchtungen, die Strapazen der Therapie, die Hoffnung, das Wunder der beiden Geburten. Im Gespräch erklärt Katja Auer, wie sie Nähe schafft, im Gespräch mit ihrer Protagonistin und später beim Schreiben.

Das Erzählmuster

Theoretiker des Erzählens definieren „Story“ nach unterschiedlichen Kriterien. „Schwanger trotz Chemotherapie“ erfüllt mehrere. Eine Handlung nach Aristoteles – gegeben, siehe oben. Eine Konflikt-Lösungs-Dramaturgie nach Jon Franklin – gegeben. Eine Heldenreise nach Christopher Vogler – gegeben.

Autorin

Katja Auer

Foto: Matthias Horch

Katja Auer, geb. 1979, ist seit 2011 Frankenkorrespondentin der Süddeutschen Zeitung und berichtet aus dem vielfach unterschätzten Landstrich über alles außer Sport. Zuvor war sie von 2006 an Landtagskorrespondentin der SZ und wurde 2009 vom Medium Magazin unter die Top 30 bis 30 gewählt. Katja Auer volontierte beim Institut zur Förderung des publizistischen Nachwuchses (ifp) und unterrichtet inzwischen auch selbst.

Katja Auer im Gespräch mit Marie Lampert

Sie bieten viel Story auf wenig Raum.

Man kann auch einen Text in 60 oder 80 Zeilen schön aufschreiben. Das macht ja nicht mehr Arbeit. Man muss auf Nebensätze hören, auf Kleinigkeiten. Die schreib ich mit rein. Und schon ist es bunter, menschlicher. Und es macht mehr Spaß als ein Nachrichtentext. Mir und hoffentlich auch dem Leser.

Ich hatte beim ersten Lesen den Eindruck, es gehe um das Schicksal von Sandra G. Beim genaueren Hinsehen stellte sich heraus, dass mehr als die Hälfte des Textes den medizinischen Fakten und dem Hintergrund gewidmet ist.

Die Leser wollen personalisierte Geschichten. Wenn es um Menschen geht, ist das interessanter als medizinische Fakten. In dem Fall ist die Neuigkeit, dass Frau G. zum zweiten Mal auf diese Weise ein Kind bekommt. Deswegen find ich es total logisch, dass ich mit ihren Kindern anfange. Und nicht mit der Retransplantation von kryokonserviertem Eierstockgewebe.

Wie können Sie uns Frau G. so nah bringen, obwohl Sie nur mit ihr telefoniert haben?

Wir hatten 2012 schon mal telefoniert, als sie das erste Kind bekommen hatte. Darüber habe ich damals schon geschrieben. Sie ist eine Frau, die sehr offen mit ihrer Krankheit und ihrer Geschichte umgeht. Da kann man mit einem Telefonat viel rausholen, wenn man nicht nur die Fakten abfragt, also: Frau G? Wie heißt ihr Kind? Wann ist es zur Welt gekommen? Ich hab stattdessen drumrum gefragt. Wie geht es ihr mit der Erkrankung? Ist Isabel eifersüchtig auf Matías? Da entwickelt man ein Gespür, wie persönlich man fragen kann. Dann kriegt man auch mehr raus als bei einer Pressekonferenz.

Orientieren Sie sich an klassischen Erzählmustern?

Nicht bewusst.

Sie haben immerhin die Forderung des Aristoteles erfüllt: Eine Geschichte muss Anfang, Mitte und Ende haben! Sie braucht einen Handlungsbogen.

Da würde ich zustimmen. Den mach ich natürlich bewusst. Wäre ja auch schlimm, wenn das nach mehr als zehn Jahren im Beruf nicht so wäre.

Wenn man nach Konfliktmustern fahndet, könnte man sagen, es geht um einen Konflikt mit der Natur, mit biologischen Umständen, mit der Krankheit.

Vielleicht auch mit einem äußeren Feind – je nachdem, wie jemand mit seiner Krankheit umgeht. Es gibt ja auch Krebskranke, die die Krankheit als Eindringling definieren.

Ich sehe auch Stationen der Heldenreise im Text. Frau G. sieht sich vor einer existenziellen Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, es gibt Hindernisse und Prüfungen, es gibt Helfer, die Ärzte in der Uni-Klinik. Und schließlich, so heißt es ja ausdrücklich, erzählt sie ihre Geschichte, um anderen Mut zu machen. Sie will der Gesellschaft etwas zurückgeben.

Weil sie ja von der Methode gar nichts wusste! In der Klinik hat sie erst gehört, dass sie unfruchtbar werden kann, und von der Möglichkeit erfahren, sich das Gewebe einfrieren zu lassen. Und jetzt will sie mit darüber aufklären.

Wieviel Platz braucht man zum Erzählen? Das Mantra vieler Kollegen ist ja: Fürs Erzählen brauch ich Platz!

Man kann auch auf 70 Zeilen erzählen. Oder auf 60. Und ich glaube auch, dass die Leute gern mal kurze schöne Geschichten lesen. Auch wenn wir alle natürlich am liebsten die ganz großen Geschichten schreiben.

Ihr Rezept für: Auf wenig Platz schön erzählen?

Man muss sich beschränken und man darf sich nicht verkünsteln. Da hat man eben mal so einen schönen Satz. Mit so schönen Wörtern. Aber dann muss man sich halt doch trennen. Nicht rumschwurbeln. Da passt ein Satz von Schopenhauer: Man nehme gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge. Sehr schön, wie ich finde.

Sich beschränken worauf?

Auf Wesentliches. Die Kerninformation ist hier schnell erzählt. Frau G. ist die erste Frau, die trotz Unfruchtbarkeit nach einer Krebstherapie zwei Kinder gekriegt hat. Das ist es schon. Und dann hab ich sogar noch Platz für dieses Zitat, dass sie ehrfürchtig und dankbar ist. Da kann man auch sagen, ist doch selbstverständlich, das muss man nicht noch hinschreiben. Doch. Dann menschelt es auch in der Kürze des Artikels.

Die Reproduktionsmedizin kriegt auch ein Gesicht, das von Ralf Dittrich. Wie sind Sie an das schöne Schleifchen für Ihren Schluss gekommen?

Herr Dittrich ist für einen Wissenschaftler ein sehr unterhaltsamer Gesprächspartner. Ihn hab ich gefragt, ob er sich noch interessiert für die Geschichte von Frau G. Und da erzählte er, sie habe in Erlangen angerufen, als sie den Kleinen bekommen hatte und gesagt, das Kind ist da! Und sie haben sich gefreut. Auch das kann man natürlich weglassen, weil es keinen hohen Informationsgehalt hat. Aber nochmal: Sowas macht die Geschichte menschlich.