Praxisbeispiel Folge 11
Stromlos glücklich

Conny Sonderegger ist eine Frau wie du und ich. Nur lebt sie ziemlich ohne Strom.

Schweizer Illustrierte 23. April 2012

Stromlos glücklich

Die Energiefrage elektrisiert die Schweiz. Woher kommt künftig unser Strom? Conny Sonderegger lebt im Luzerner Napfgebiet (fast) ohne Elektrizität. Ein Augenschein bei Kerzenschein.

Marcel Huwyler

Conny Sonderegger berechnet ihren Beleuchtungsbedarf in Lux. Eine Kerze, lehrt die Physik, hat die Helligkeitsgrösse von einem Lux. So ein Kerzenstummel reicht Conny, um sich abends in ihrem Häuschen zu orientieren. Bei zwei Kerzen Beleuchtung wird der Tisch gedeckt, bei drei Lux isst sie gemütlich Znacht. Und will sie anschliessend ein Buch lesen, flackern vier Kerzen, vier volle Lux Licht – für Connys Verhältnisse der pure Lux-us.

Seit drei Jahren lebt Conny Sonderegger – 32 Jahre alt, Stadtluzernerin, von Beruf Postbotin und Behinderten-Chauffeuse – (fast) ohne Strom. «Nicht aus ideologischen Gründen», sagt sie, es habe sich einfach so ergeben. Früher lebte Conny in einer «fetten» Wohnung. Doch dann wollte sie mehr – beziehungsweise viel weniger: allein sein («das ist nicht das Gleiche wie einsam»), ein Häuschen, Natur, Grün, möglichst abgelegen – und entdeckte den Gustiberg-Weiler. Luzerner Napfgebiet, Willisauer Gemeindeboden, 1000 stotzige Meter hoch, die Nachbarhöfe liegen 30-Minuten-Fussmärsche (mit Gummistiefeln) entfernt, heissen Chrutschütti, Tschoope oder Zibershusschürli, und bei Flurnamen wie Hasematt und Haserank stromern auch Füchse herum «und rudelweise Rehe», sagt Conny. Vom WC-Fenster aus könne sie das Wild beobachten, ganz leise, von ganz nah. Hier trägt das stille Örtchen seinen Namen eben noch zu recht.

Das verlebte Häuschen (auf dem schimmelgrünen Kachelofen in der Stube prangt die Jahreszahl 1836) mit dem Flickenteppichdach aus Wellblechschindeln und den backpapierdünnen Fensterscheiben wurde nie ans Stromnetz angeschlossen. Eine Riesenumstellung sei das zuerst gewesen, erzählt Conny, als sie hier eingezogen sei, «anfangs sucht man automatisch Lichtschalter und Steckdosen, aber wir haben uns schnell umgewöhnt». Wir. Sie meint ihre beiden Katzen und Zoe, das Hündchen, das sie abwechslungsweise «Mueter», «Maite» und «alti Runzle» ruft, das treuherzig ist, greise dreizehn Jahre alt und drum schwerhörig und das wegen des seltenen Besuchs heute aufgekratzt herumtrippelt und pausenlos hochtourig mit dem Schwanz kreiselt wie eine dieser Windenergie-Anlagen im Jura.

Stromloses Wohnen habe für sie nur noch Vorteile, sagt Conny. «Viele Leute meinen, ich sei arm, ich fühle mich aber reich im Herzen.» Dieses Leben schenke ihr Ruhe, Gelassenheit und Langsamkeit. Kerzen, Taschenlampe und Batterie-Lämpchen spenden Licht, gekocht wird auf einem Gasherd, das Duschwasser stammt vom Gasdurchlauferhitzer, geheizt wird mit Holz, das nordseitige Fenstersims ersetzt den Kühlschrank, und einmal die Woche macht Conny Hausputz – mit dem Staubsauger. Staubsaugen? Aha. Soso. Äh …

Conny lächelt, grinst dann frech (sie hat was von Ronja Räubertochter) und geniesst die Verwirrung. Und präsentiert dann ihren Generator, Stromerzeuger wie das Teil im Baumarktjargon heisst, mit Benzin betrieben, Marke Fuji Robin, sauschwer – und saulaut, sobald Conny den Motor anzurrt. «Und leider auch sehr effizient», meint die 32-Jährige und erzählt, wie sie einst das Notebook am Generator anschloss und wie es riecht und ausschaut, wenn Flammen aus der Tastatur züngeln. Handy und Notebook? «Ich lebe doch nicht hinter dem Mond», wehrt sich Conny, ja, sie besitze ein iPhone, sei bei Facebook, schaue auf dem Notebook Filme – «ich lebe normal, ich habe lediglich keinen Strom». Dafür ein Arsenal von Akkus und Batterieladegeräten. Und so besucht sie ab und zu ihren Vater oder Kollegen, lädt dort ihre Akkus und Batterien und holt sich so frische Energie nach Hause. Stromimport nennen das die Energiekonzerne.

Der letzte Winter war hart. Minus 22 Grad, nur wenig wärmer im Haus, und als das Wasser im Trinknapf der Haustiere gefror, zog Conny für einen Monat zu ihrem Vater. «Ich habe nie gesagt, es sei einfach, ohne Strom zu leben, oder romantisch!» Und trotzdem würde sie nicht mehr tauschen mit ihrem früheren Leben. Selbst wenn sie eine Stunde Schnee schaufeln muss bis zum 400 Meter entfernten Abstellplatz, wo ihr Auto steht. «Klar habe ich ein Auto, wie soll ich sonst zur Arbeit fahren?», blafft Conny, leicht genervt, weil sie sich schon wieder wehren muss, erklären, sie sei kein Freak, keine Spinnerin, keine Öko-Tante – «ich habe nur keinen Strom».

Was sagt man im Dorf unten über sie? Conny will es gar nicht wissen. Die Nachbarn in der Guetenegg oder im Schattebüel? Egal. Die Kollegen? Jä nu. Familie? Äch! Auf dem Gasherd köchelt Wasser, Conny löffelt sich eine Tasse Kaffee zurecht, hockt vor den Kachelofen. «Ich bin schon immer gern gegen den Strom geschwommen.» Sagt sie, klappt ihr Notebook auf, zündet vier Dochte an. Vier Lux. Kerzenwachs statt Kilowatt.

Der Autor führt Regie

Marcel Huwyler arbeitet wie ein Filmemacher. Durch Wechsel von Nähe und Distanz, Innen- und Außenansichten entstehen Rhythmus und Lebendigkeit. Das Schaubild von Brigitte Seibold (www.prozessbilder.de) zeigt dieses Prinzip.

Der Autor verspricht Ungewöhnliches: Ich stell euch eine vor, die lebt ohne Strom. Und sie ist glücklich dabei. Er malt Stimmungen: Wir sehen Conny in heimeliger Hüttenatmosphäre. Er ruft Erinnerungen wach: Romantik bei Kerzenlicht kennen seine Leser. Und er setzt auf Kontraste: Die idyllische Szenerie steht gegen „Beleuchtungsbedarf“, „Helligkeitsgrösse“ und „Physik“. Der Anlass für seinen Besuch bei der Protagonistin ist ja „die Energiefrage“.

Kameraführung oder Perspektivwechsel

Durch Wechsel von Nähe und Distanz, Innen- und Außenansichten entstehen Rhythmus und Lebendigkeit. Huwyler arbeitet wie ein Filmemacher. Die Nahaufnahme der Protagonistin (Alter, Beruf, Werte, Ziele) ist gefolgt von der Vogelperspektive auf den Gustiberg-Weiler (Nachbarhöfe, Flurnamen, Rehe). Schnitt und neue Perspektive: Rehe vor dem WC-Fenster. Zoom auf die Jahreszahl auf dem Kachelofen (1836), Vorstellung der Mitbewohner (zwei Katzen, ein Hund) mit Zoom auf das Detail: kreiselnder Schwanz. Es folgt das Statement der Protagonistin über ihr stromloses Glück „ … reich im Herzen“ genau in der Mitte des Textes. Dann ein Schwenk über das komfort-relevante Mobiliar (Lämpchen, Gasherd, Durchlauferhitzer, „Kühlschrank“, Staubsauger).

Ende

Im letzten Absatz steht das doppelsinnige Zitat der Protagonistin „Ich bin schon immer gern gegen den Strom geschwommen“. Da könnte Schluss sein, ist aber nicht. Huwyler schließt: (Conny) „ klappt ihr Notebook auf, zündet vier Dochte an. Vier Lux. Kerzenwachs statt Kilowatt“. Er begründet das so: „In einem Film sagt der Held seinen Schlusssatz, und dann ist eben noch nicht fertig, sondern die Kamera schwenkt und zeigt noch irgend etwas – der Zuschauer soll mit einer Stimmung, einer Schlussimpression verabschiedet werden. Bei meinen Texten versuche ich das auch.“

Abstrakt und konkret

Ein guter Erzähler macht auch ein sperriges Thema greifbar und verständlich. Leserinnen wollen keine Klimmzüge machen, sondern bequem einsteigen. Das funktioniert über eine überzeugende Person. Und/oder über einen charakteristischen Gegenstand. Man findet ihn mit einem Werkzeug aus dem Handwerkskoffer des Storytelling. Es heißt Leiter der Erzählerin/ des Erzählers (englisch: ladder of abstraction). Selbst ein abstraktes Thema wie „Atomstrom“ lässt sich damit konkretisieren. Konkret ist, was man anfassen kann, was man zeichnen oder mit den Sinnen wahrnehmen kann. Zum Beispiel eine Kerze. Oder einen Kerzenstummel. Texte, die Abstraktum und Konkretion verbinden, schaffen Verständnis von Zusammenhängen, im Idealfall auch Aufklärung.

Der Aristoteles-Test

Hat der Text eine Heldin, einen Ort und eine Handlung? Das stromlose Häuschen macht Conny zur Hauptfigur der Geschichte. Die Heldin und ihr Ort stehen gleichberechtigt im Zentrum des Textes. Die Handlung: Conny zeigt dem Reporter (und also den Leserinnen und Lesern), dass und wie es sich gut leben lässt ohne Strom, oder doch fast ohne.

Überleitungen

Marcel Huwyler geleitet seine Leser mit zart ironischen Kommentaren oder Wortspielen von Absatz zu Absatz. Er bringt sich damit als Erzähler und Fremdenführer freundlich in Erinnerung, er vermittelt den Conny-Kosmos. Die Überleitungen zwischen den Absätzen:
(1) … vier volle Lux Licht – für Connys Verhältnisse der pure Lux-us.
(2) Hier trägt das stille Örtchen seinen Namen eben noch zu recht.
(3) der Schwanz des Hündchens kreiselt… wie eine dieser Windenergie-Anlagen im Jura
(4) Aha. Soso. Äh …
(5) Stromimport nennen das die Energiekonzerne.
(6) Die Ausnahme: Zitat Conny
(7) Kerzenwachs statt Kilowatt

Autor

Marcel Huwyler

Marcel Huwyler, Reporter bei der Schweizer Illustrierten, wurde 1968 in Merenschwand/Schweiz geboren. Während seines Studiums und seiner siebenjährigen Tätigkeit als Primarschullehrer schrieb er frei für Lokalzeitungen.

Seit 1996 arbeitet er für Aargauer Zeitung, Migros-Magazin, Landliebe und Schweizer Illustrierte.
Vom Branchenmagazin Schweizer Journalist wurde er nominiert für die Auszeichnung „Schweizer Journalist des Jahres 2011“.

Als die Energieversorgung ins Rutschen geriet, merkte man, dass die Schweizer tatsächlich den Ausstieg aus dem Atomstrom wollen. Der Bundesrat hatte das so signalisiert und mit einem Male sprach jedermann über die zukünftige Stromversorgung. Wir suchten bei der Schweizer Illustrierten einen Themenzugang, der auch eine Woche später noch interessant ist. Zudem sollte die Geschichte alle unsere Leser packen, vom Kind bis zum Grossvater. Schliesslich hatte ich die Idee, ganz an die Basis zu gehen: Wir alle brauchen mit grosser Selbstverständlichkeit täglich Strom. Aber gibt es in unserer Gesellschaft Menschen, die ganz ohne Strom leben?

Einer unserer Fotografen lernte Conny Sonderegger zufällig via Facebook kennen und erfuhr, dass sie ohne Strom lebt. Ich wusste sofort: Sie ist perfekt für mein Porträt. Sie lebt zwar stromlos, verzichtet aber dennoch nicht auf die heutigen Errungenschaften wie Facebook oder das iPhone. Auch beim ersten, telefonischen Kontakt merkte ich schnell, dass Conny kein Öko-Freak ist. Sie wollte einfach abgelegen leben, sie hätte das Häuschen auch mit Strom genommen. Am Telefon sagte sie gleich, sie dusche übrigens auch. Ich wusste sofort: Die Frau hat Humor.

Ja, diese Gegensätze sind sehr wichtig für den gesamten Text. Denn das macht für mich die Geschichte so spannend: Conny ist genau wie wir, nur lebt sie ohne Strom. Jeder von uns könnte Conny sein. Vielleicht ist ihre Art zu leben ja unsere Zukunft. Conny muss sich einfach sehr genau überlegen, wofür sie ihren wenigen Strom braucht. Wenn Conny zu hundert Prozent stromlos leben würde, dann hätte die Geschichte schnell in eine fundamentalistische Ecke tendiert, und das wollte ich nicht. Aus diesem Grund habe ich auch relativ bald die Sache mit dem Staubsauger und dem Generator eingeführt: um zu zeigen, dass Conny zwar nicht ganz konsequent, dafür umso menschlicher ist.