Praxisbeispiel Folge 9
Der Handtaschenraub

Ein Mann wird geehrt, weil er einen Handtaschenräuber gestellt hat. Es ist der Asylbewerber Hassan Hussein aus dem Irak.

Weinheimer Nachrichten, 9. Juli 2011

Danke. Und Tschüss

Der junge Iraker Hassan Hussein hat in Hemsbach einen Handtaschenräuber verfolgt, gestellt und der Polizei übergeben. Dafür hat er Ruhm und Anerkennung erfahren. Doch jetzt braucht der Helfer selbst Hilfe – seine Duldung läuft Ende Juli ab. Ein Besuch.

Von Nina Himmer

Die Symbole der Anerkennung passen in eine transparente Plastikhülle. Darin bewahrt Hassan Hussein Urkunden, Bilder und sorgfältig ausgeschnittene Zeitungsartikel auf. Die Fotos zeigen ihn inmitten von Polizisten und Politikern, die anerkennend in die Kamera lächeln. Nur Hassans Lächeln wirkt dünn – dabei ist er der Anlass für die Artikel, der Held der Geschichte.

Der Held sitzt auf einer schmalen Couch, trägt einen grauen, schlabbrigen Jogginganzug und starrt ununterbrochen auf seine Hände. An den Wänden seines winzigen Zimmers hängen Bilder, die aus dem Facebook-Profil eines jeden Teenagers stammen könnten. Junge Leute, die sich lachend im Arm liegen – seine Freunde. „Ich weiß nicht, ob sie noch leben“, sagt er. Gehört hat er von ihnen schon lange nichts mehr. Vor zweieinhalb Jahren ist der heute 17-Jährige vor dem Krieg im Irak nach Deutschland geflohen und lebte in verschiedenen Flüchtlingswohnheimen. Seine derzeitige Bleibe ist in Viernheim, bald steht ein Umzug nach Heppenheim an.

Neben Hassan lehnt sich sein Freund Amir Abd Al Mohammed in die Kissen, der zum Übersetzen gekommen ist. Mühelos wechselt der 18-Jährige zwischen der arabischen und der deutschen Sprache hin und her. Hassan versteht zwar fast alles, doch flüssig auf Deutsch antworten kann er nicht. Manche Begriffe haben es dennoch akzentfrei in seinen spärlichen deutschen Wortschatz geschafft. „Aufenthaltsgenehmigung“ zum Beispiel, oder „Behörde“, „Beamte“ und „Zivilcourage“. Für Letztere wurde der junge Iraker mehrfach ausgezeichnet: Von der Bundespolizei, der Deutschen Bahn, der Polizeidirektion Weinheim, dem kommunalen Kriminalpräventionsverein Rhein-Neckar und dem Hemsbacher Bürgermeister Volker Pauli.

Der Grund für die Auszeichnungen liegt einige Wochen zurück. Hassan erzählt leise und sachlich, was damals auf dem Hemsbacher Bahnhof passiert ist. „Ich habe mitbekommen, wie einer jungen Frau die Handtasche geklaut wurde“, sagt er. Erst habe er nicht eingreifen wollen, denn Hassan hat einen festen Grundsatz: Immer aus jedem Ärger raushalten. Aber dann beginnt die Frau zu weinen – und der Vorsatz ist dahin. Hassan läuft dem flüchtenden Täter nach. Ein gutes Stück vom Bahnhof entfernt findet er die weggeworfene Tasche. „Ich habe sie genommen und wollte zurückgehen“, erinnert er sich, „doch dann habe ich gemerkt, dass der Geldbeutel fehlt.“ Hassan schweigt kurz. „Ich hatte Angst. Wäre ich ohne das Geld zurückgegangen, hätten doch alle gedacht, ich hätte es genommen.“ Er weiß, dass er nur zu gut in das Bild eines Täters passt: jung, Ausländer, massige Statur, kurzgeschorene Haare, tätowierte Arme. Er will keinen Ärger bekommen. Also nimmt er die Verfolgung wieder auf, stellt den Täter und schleppt ihn zurück zum Bahnhof. Auf dem Rückweg bedroht der Junge Hassan mit einem Messer. Er kann es ihm abnehmen. Am Bahnhof warten die bestohlene junge Frau und die Polizei. Die Frau bedankt sich wieder und wieder, fährt Hassan schließlich nach Hause. Es ist der Tag, an dem Hassan zum Helden wird.

Stichtag: 28. Juli

Aber die Gesellschaft, die ihn mit Urkunden, Dankesreden und öffentlicher Aufmerksamkeit für seinen Einsatz bedenkt, will ihn loswerden. Hassan droht die Abschiebung. Am 28. Juli läuft seine Duldung ab – der Helfer braucht nun selbst Hilfe. Hassan ist „vollziehbar ausreisepflichtig“. Also darf ihn die Ausländerbehörde abschieben, solange keine Hindernisse vorliegen. Die Situation im Irak ist ein solches Hindernis und könnte Hassan eine Gnadenfrist bis zum Herbst einbringen. Denn massenhafte Abschiebungen in den Irak werden in Hessen bis dahin nicht durchgeführt. Doch egal wann, Hassan quält der Gedanke an eine Rückkehr in seine Heimat.

Vater ermordet, Haus abgebrannt

„Ich würde mir eher etwas antun, als zurück in den Irak zu gehen“, sagt er. Im Irak hat er Menschen auf offener Straße sterben sehen, dort hat seine Familie Drohbriefe erhalten, denen Patronenhülsen beilagen. Das Haus seiner Eltern in Bagdad wurde abgebrannt. Sein Vater, Angestellter bei einer Ölfirma, wurde 2005 von Unbekannten ermordet. Seine Mutter und die Geschwister sind seitdem auf der Flucht und ziehen wie Nomaden durch das kriegsgeplagte Land. „Chaos“ und „gesetzlos“ sind die beiden Begriffe, die Hassan am häufigsten gebraucht, wenn er über seine Heimat spricht. „Die Terroristen machen das Land kaputt und die Amerikaner verfolgen nur noch eigene Interessen.“

Hassan nimmt die Hände von den Knien und legt sie wie zum Gebet an die Stirn. Auf seinem linken Handgelenk prangt eine Tätowierung. „Der Anfangsbuchstabe des Namens meiner Mutter“, sagt er, hält kurz inne und fügt dann zögerlich hinzu: „Sie heißt Sara.“ Ohne sie wäre er nicht hier. „Nachdem meinVater erschossen wurde, wollte mich meine Mutter unbedingt in Sicherheit bringen, raus aus dem Land.“ Sie verkaufte das Auto, ihren Schmuck und die Goldreserven der Familie, um ihrem jüngsten Sohn die Flucht zu ermöglichen. Rund 10 000 Dollar kostete die Reise ins Ausland – hauptsächlich Bestechungsgelder. Hassan zieht die Schultern hoch. „So läuft das dort“, sagt er.

Von Bagdad nach Rimbach

Er war 14 Jahre alt, als er seine Familie verließ. Ohne zu wissen, ob er sie wiedersehen wird. Es fällt ihm schwer, über diese Erinnerungen zu sprechen. In solchen Momenten wirkt er trotz seiner breiten Schultern und dem bulligen Nacken wie ein Kind. Die Übersetzung seines Freundes Amir wird stockender, er schaut Hassan besorgt an. Der blickt kurz auf das Bild seines toten Vaters an der Wand, DIN-A4-Format, und wechselt das Thema. Über die Türkei sei er nach Deutschland gekommen – vom Kriegsgebiet in Bagdad zunächst nach Rimbach im Odenwald. Für den Jungen aus Bagdad eine neue Welt: Wiesen, Frieden und geordnete Bürgerlichkeit statt Wüste, Krieg und Chaos.

„Das Tollste an Deutschland ist dieses Gefühl von Sicherheit“, sagt Hassan, „und die Ordnung, die Gesetze, die Demokratie, die Freiheit.“ Er glaubt nicht daran, dass der Irak bald ein sicherer Ort sein wird. Amir schaut seinen jüngeren Freund lange an. Auch er stammt aus dem Irak, lebt aber seit frühester Kindheit mit seiner Familie in Deutschland und ist hier eingebürgert. Während er jeden Tag mit seinen Eltern sprechen kann, hört Hassan manchmal wochenlang nichts von seiner Mutter und den Geschwistern. Mobilfunk und Internet sind im Irak nicht verbreitet. Nur manchmal gelingt der Kontakt per Handy. Dann erzählt Hassan von Deutschland – und von den Behörden hier. Sein größter Wunsch ist es, seine Familie auch nach Deutschland zu holen, doch er hat weder Geld noch eine Aufenthaltsgenehmigung.

Ein Leben auf Raten

Hassan lebt auf Raten hier. Zunächst wurde seine Duldung alle sechs Monate verlängert, beim letzten Mal nur noch drei. Hassans Antrag auf Asyl wurde abgelehnt. Sein Anwalt Gerhard Meyer-Heim hofft jetzt auf eine geplante Gesetzesänderung, die integrationsfähigen, jungen Ausländern den Aufenthalt in Deutschland erleichtern soll. Paragraph 25a des Aufenthaltsgesetzes könnte alles ändern – sehr wahrscheinlich ist das aber nicht. „Ich versuche alles, um hier bleiben zu können“, sagt Hassan. Er hat einen Deutschkurs besucht, war noch nie straffällig und hat sich selbständig Arbeit gesucht. Zweimal schon hat er einen Job gefunden, einmal auf dem Bau, einmal in einem Restaurant, doch jedes Mal ist die Chance an einer verweigerten Arbeitserlaubnis gescheitert . Trotzdem liebt er das Land, das ihn nicht haben möchte. Er muss lange nachdenken, ob es etwas gibt, was ihn hier stört. „Sonntage“, sagt er schließlich. Da seien die Straßen leer, die Läden zu und das Leben eingefroren. „Dann muss ich mehr Zeit hier verbringen.“

„Hier“ ist das Asylantenwohnheim in Viernheim. Die Hausnummer sieben hat jemand mit neongrüner Farbe an die Wand gesprayt. Doch auch ohne die Zahl fällt der Wohnblock auf, um den sich Abfall und Sperrmüll stapeln. „Das holt schon lange niemand mehr ab“, sagt Hassan, während er in seinen braunen Ledersandalen durch das Gebäude geht. Nach Auskunft der Ausländerbehörde befindet sich das Wohnheim „in Auflösung“. Die Decken sind vermodert, die Waschbecken zerbrochen, die alten Herde rot vom Rost. Küche und Bad sind unbenutzbar und völlig verdreckt. Kabel ragen aus den Wänden, die Türen lassen sich nicht schließen. Manche bestehen nur noch aus Styropor und Klebeband. Im Keller rattert eine alte Waschmaschine vor sich hin. Die Briefkästen sind mit schwarzem Filzstift beschriftet, die Namen darauf durchgestrichen und bis zur Unkenntlichkeit überschrieben. Hassan bückt sich nach einem zerrissenen Brief, der auf dem Boden liegt. „Das passiert öfter“, sagt er und schaut kurz auf die Adresszeile. Vielleicht eine Nachricht für ihn von der Ausländerbehörde? Doch der Brief am Boden ist nicht für ihn.

Hassan würde gerne richtig Deutsch lernen, eine Ausbildung zum Elektriker machen und dann arbeiten. Wunschträume. Aber immerhin sind durch den Vorfall in Hemsbach einige Politiker auf ihn aufmerksam geworden. Bürgermeister Volker Pauli hat seinen Viernheimer Amtskollegen Matthias Baaß kontaktiert. Doch beide wissen, dass sie nicht viel tun können. „Das ist Sache des hessischen Landratsamtes und des Regierungspräsidiums“, heißt es aus dem Viernheimer Rathaus. Volker Pauli wünscht sich, dass Hassan dort leben kann, wo er möchte: „Ausgerechnet Leute wie ihn abzuschieben, wäre ein fatales politisches Signal.“

Das Flüchtlingsschicksal als Urgeschichte

Stationen der Heldenreise von Hassan Hussein. Illustration Brigitte Seibold (www.prozessbilder.de)

Storytelling

In den analytischen Begriffen des Storytelling: Die Autorin gestaltet ihren Text mit Kontrasten, archaischen Motiven, einer bildhaften und sensiblen Sprache. Sie stellt Zusammenhänge her und zeigt eine Entwicklung, ein Vorher-Nachher. Die Illustration zeigt vier Stationen des Helden, wie Nina Himmer sie angeordnet hat: Die Ehrung, die Heldentat, seine Vergangenheit und seine Zukunft.

Archaische Motive

Die Geschichte erzählt von einem 14-Jährigen, der mutterseelenallein in ein Land kommt, dessen Sprache er nicht spricht. Von einem Menschen auf der Flucht, der ein sicheres Land erreicht, dort aber nicht bleiben darf. Von einem, der in Deckung lebt, sich aber von den Tränen einer Frau anrühren lässt und sein Prinzip Deckung deshalb aufgibt. Von einer Mutter, die alles tut, um das Leben ihres Sohnes zu retten, auch um den Preis der vielleicht endgültigen Trennung. Von einer Gesellschaft, die zwar viele schöne Worte findet für den Fremden, ihm aber unwürdige Wohnverhältnisse zumutet, und, schlimmer: ihn zu verstoßen droht.

Die Heldenreise

Die Vita Hassan Husseins, wie Nina Himmer sie erzählt, enthält im Großen wie im Kleinen das Muster einer Heldenreise, wie es der Mythenforscher Joseph Campbell als Urgeschichte beschrieben hat. Die Heldenreise im Kleinen: In der Szene vom Handtaschenraub wird der Held vor eine Aufgabe gestellt. Es muss sich entscheiden, dem Dieb nachzulaufen (Ruf des Abenteuers) und zögert (Weigerung). Doch die Tränen der Frau lösen den Zweifel auf (Überschreiten der Schwelle) und der Held nimmt die Aufgabe an (Prüfung). Er trifft auf Widerstand, kämpft mit dem Dieb (Konfrontation) und besiegt ihn (Show down). Bis hierhin entspricht der Ablauf des Geschehens exakt dem Fahrplan, den Campbell aus hunderten von Mythen extrahiert hat (Schaubild). Eigentlich müsste jetzt der Held gewandelt, geläutert, gereift in seine alte Welt zurückkehren, und in dieser Welt Gutes tun. Jetzt müsste er sich einmischen, sich zeigen, seinen Mann stehen… dürfen. Doch die Welt, sie ist nicht so. Das deutsche Asylrecht ist für unseren Helden nicht gemacht.

Der eigenen Wahrnehmung trauen

Nina Himmer, das erzählt sie im Making of, war berührt und schockiert von dem, was sie mit Hassan Hussein erlebt hat. Mit ihren stärksten Eindrücken gestaltet sie Anfang und Ende ihres Textes. Sie steigt ein mit der Plastikhülle, in der er seine Symbole der Anerkennung aufbewahrt. Und sie schließt mit den schockierenden Eindrücken vom Asylantenwohnheim. Spiegel-Reporter Jürgen Leinemann hat einmal gesagt: „Gefühle sind Recherche-Ergebnisse.“ Die Autorin gibt ihrem Text eine Sprache und eine Form, in der ihre Empörung zur Empörung der Leser werden kann.

Leser locken

Das große Foto – Hassan in Türsteherpose – bedient das Klischee, mit dem Hassan sich auseinandersetzen muss, und mit dem die Autorin spielt. „Er weiß, dass er nur zu gut in das Bild eines jungen Täters passt: jung, Ausländer, massige Statur, kurzgeschorene Haare, tätowierte Arme“. Zwei krasse Ansichten aus dem Wohnheim sind weitere Hingucker. Nur das Foto rechts unten kommt ohne aggressiven Subtext aus: es zeigt Hassan und seinen Freund Amir, der das Gespräch übersetzt.

Die taz-Version

Die tageszeitung hat eine gekürzte Fassung der Geschichte übernommen. Sie verzichtet auf den Bürgermeister von Hemsbach und den Zustand des Asylantenwohnheim in Viernheim und unterstreicht so das Allgemeingültige des Falles Hassan Hussein.

Autorin

Nina Himmer

Nina Himmer, 1986 in Heidelberg geboren, freie Journalistin, studierte Politik und Philosophie und besuchte die 49. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule in München. Nach dem Abitur 2006 begann sie bei den Weinheimer Nachrichten zu schreiben. Beiträge unter anderem für SZ, FAZ, taz und Rheinpfalz.

Im Heimaturlaub habe ich beim Frühstück meine alte Lokalzeitung durchgeblättert – die Weinheimer Nachrichten. Da stand so eine typische Meldung, ein Zweispalter mit Gruppenbild. Es wurde aktuell berichtet über die Auszeichnung. Ich dachte ich mir: Das ist irgendwie schade, ich hätte gern mehr über den Ausgezeichneten gewusst. Daraufhin habe ich lange herumtelefoniert und hatte irgendwann die Telefonnummer eines Freundes von ihm. So ist die Geschichte zustande gekommen.

Ich habe das Flüchtlingswohnheim als Treffpunkt ausgesucht. Ich wollte die Lebensumstände dieser Menschen sehen und hatte nicht so viel Lust, Hassan in einem schicken Café zu treffen. Er wollte das am Anfang nicht so gerne. Mir war es ganz wichtig. Es wäre sonst nicht sehr authentisch gewesen. Ich war sehr froh, dass ich da war. Nicht weil es besonders schön war, im Gegenteil – es war total schockierend. Aber ich glaube, der Geschichte hat es sehr gut getan.

Im Wohnheim war es ganz schrecklich, total dreckig und chaotisch. Das Ordentlichste in diesem ganzen Wohnheim war tatsächlich so eine schnöde Plastikmappe. Und da hatte Hassan alles gesammelt: genau diesen besagten Zweispalter, Texte aus anderen Lokalzeitungen, Fotos und Urkunden. Das war ein rührender Moment als er diese Mappe nahm und alles vorsichtig mit den Fingerspitzen herausgezupft und ganz stolz gezeigt hat. Das hat mich irgendwie berührt. Deshalb habe ich den Text damit begonnen.