Praxisbeispiel Folge 42
Der Schrottkönig

Der Schrottplatz von Willy Eimer erzählt Jahrzehnte deutscher Wirtschaftsgeschichte.

Gießener Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 2015

Der Schrottkönig

Autos sind mehr als die Summe ihrer Teile. In Autos stecken Erinnerungen. Der erste Urlaub nach Italien, der erste Kuss mit dem Schwarm, weitere Küsse auf der Rückbank. Doch manchmal rostet alte Liebe auch, genauso wie der fahrbare Untersatz. An diesem Punkt kommt der Langgönser Willi Eimer ins Spiel.

Von Christoph Hoffmann

Willi Eimer setzt seine getönte Sonnenbrille auf, zupft am Blaumann und öffnet die Tür. Raus aus dem Büro, rein in sein Königreich: Reifen, Motoren und Roller in verschiedenen Stufen des Verfalls. Und natürlich Autos – beziehungsweise das, was von ihnen übrig geblieben ist. Unzählige Reihen aufeinandergetürmter Wracks, ausgeschlachtet und vergilbt. Ein Meer aus Schrottlauben, das jeder Pendler kennt, der schon mal über die Langgönser Autobahnbrücke gefahren ist. »Über 1000 Fahrzeuge stehen hier momentan«, sagt Eimer und beginnt den Rundgang über den Schrottplatz. Er wählt die Schritte mit Bedacht. Der Mann ist gerade 80 geworden.

Generationen von Mittelhessen haben ihre schrottreifen Autos zu Willi Eimer gebracht. Der ein oder andere soll dem fahrbaren Untersatz sogar noch eine Extrabeule verpasst haben, bevor die Kiste in die Schrottpresse kam. Wie viele Autos er in seinem Leben zu Würfeln verarbeitet hat, kann der 80-Jährige nicht sagen. »Früher wurde kein Buch geführt. Aber es waren viele. Sehr viele.«

Eimer hat mehr als sein halbes Leben auf dem Schrottplatz verbracht. Schon seine Großeltern haben das gesammelt, was andere nicht mehr brauchten: Lumpen, Papier und Knochen. »Daraus haben die Leute früher Leim gemacht.« Die Kinder aus dem Dorf sammelten die alten Zeitungen ein, die Knochen besorgte Eimer selbst. Beim Schlachter. »Wenn es im Sommer richtig heiß wurde, haben die Knochen sich bewegt. Wegen der vielen Maden.« Eimer muss bei der Erinnerung lachen. »Das hat gestunken wie die Pest

Nicht viel besser dürfte es beim Aufhängen der Hasenfelle gerochen haben. Für 20 Pfennig kaufen, zum Trocknen aufhängen, für 30 Pfennig verkaufen: Die Eimers wussten schon immer, wie man Geschäfte macht.

Am 1. April 1967 machte sich der Junior selbstständig. Er ließ sich einen Kran aufs Auto bauen und sammelte die Rostlauben aus der Region ein. »Mir ging es eigentlich nur ums Metall. Dann hat mich irgendwann mal einer gefragt, ob er sich für 20 Mark eine Lichtmaschine ausbauen könne.« Eimer rechnete: Wenn er aus jedem Auto die Lichtmaschine für 20 Mark verkaufen könnte, dann… Heute verdient der Schrotthändler den Großteil seines Geldes mit dem Verkauf von Autoteilen.

Willi Eimer ist bei seinem Rundgang an einer großen Garage angekommen. »Hier werden die Autos trockengelegt, das heißt von Betriebsmitteln befreit. Nachdem wir die verwertbaren Teile ausgebaut haben, werden die Autos gelagert.« Ein Job für den alten Eimer, wie der Senior auf dem Hof gerufen wird. Auch mit 80 sitzt er noch regelmäßig auf dem Gabelstapler, lädt die Karossen auf und bringt sie vom Trockenlegen auf den Autofriedhof.

Branche am Boden

Eimer lächelt, wenn er vom Gabelstapler – »ein tolles Spielzeug« – spricht.
Die Mundwinkel wandern noch weiter nach oben, als er auf sein erstes Auto zu sprechen kommt. »Ein Käfer. Hab ich damals für 300 Mark gekauft.« Eigentlich lächelt der 80-Jährige die ganze Zeit. Es ist ein ehrliches Lächeln, nicht aufgesetzt. Man merkt, dass Willi Eimer zufrieden ist. Vielleicht liegt es daran, dass nicht nur er, sondern auch der Großteil seiner Familie auf dem Schrottplatz unterwegs ist. Sohn Heinz-Willi, die Töchter Petra und Karin, beide Schwiegersöhne, selbst Ehefrau Mariechen springt ein, wenn Not am Mann ist.

Wenige Meter neben der Garage steht die Presse, das Herzstück des Schrottplatzes. Hier werden die Autos zu Würfeln verarbeitet, bevor sie weiterverkauft werden. Abnehmer sind Betriebe, die den Schrott in kieselsteingroße Metallstücke schreddern. Daraus entstehen Baustoffe, Nägel – und neue Autos. Ein Kreislauf: Ein Stück aus dem ersten Wagen des Vaters könnte auch im ersten Wagen des Sohnes stecken. Eimer lächelt bei dem Gedanken.

Der 80-Jährige schlendert weiter über den Schrottplatz. Links und rechts stehen die Wracks Spalier. Aufkleber auf den Kofferräumen erzählen Geschichten:

Vom Campingplatz an der Adria, Urlaub am Balaton, der Fähre nach Korsika. Man könnte meinen, die vielen Autos seien ein Zeichen des Erfolgs, doch das Gegenteil ist der Fall: »Der Absatz ist momentan sehr schwierig. Die Branche ist am Boden. China kauft keinen Schrott mehr, die Türken auch nicht. Und über die deutsche Stahlindustrie brauchen wir gar nicht erst reden.« Für eine Tonne Schwerschrott bekomme er heute bestenfalls 60 Euro. Vor gar nicht allzu langer Zeit seien es noch 200 Euro gewesen. »Verrückte Zeiten«, sagt Eimer, die Metallpreise seien so hoch gewesen, dass er den Schrottplatz nachts hätte bewachen lassen müssen. Besonders auf Katalysatoren hätten es die Diebe abgesehen. Heute reichen die Hunde zum Schutz des Schrottplatzes, sie schlafen in einem bunten Campingwagen vor dem Büro. »Der wird fürs erste nicht verschrottet«, lacht Eimer. Der rote Fiat daneben schon. Die kränkelnde Metallbranche bekommen auch Eimers Kunden zu spüren. »Ich konnte dem Besitzer nur 20 Euro geben. Letztes Jahr hätte er 100 Euro mehr bekommen

Vor ein paar Jahren wären es noch 2500 Euro gewesen. Um die Wirtschaft nach der Finanzkrise wieder anzukurbeln, führte die Bundesregierung 2009 die Abwrackprämie ein. Wer sein altes Auto verschrotten ließ und einen Neuwagen kaufte, erhielt vom Staat 2500 Euro. Eimers Augen leuchten, wenn er an die Zeit denkt. Innerhalb eines Jahres wurden in seinem Betrieb 8500 Autos verschrottet, Eimer machte das Geschäft seines Lebens.

Blumen in der Presse

An einem großen Haufen alter Reifen bleibt Eimer stehen. Ob er nach etlichen Jahren auf dem Schrottplatz ein besonderes Verhältnis zu Autos habe? Der 80-Jährige muss kurz überlegen. »Ja. Weil sie meine Familie ernähren.« Pragmatisch. Kein Wunder: Für ihn haben die Autos keine Geschichte. Für seine Kunden schon: »Für viele Leute ist es sehr emotional, das erste eigene Auto zu verschrotten. Ich hatte mal ein Mädchen hier, das vor der Presse einen Strauß Blumen ins Auto gelegt hat.« Willi Eimer lächelt wieder. »Ich musste ihr versprechen, einen ganz besonderen Platz für den Wagen zu finden.«

Der 80-Jährige wischt die Hände am Blaumann ab und rückt die Sonnenbrille zurecht. Der Rundgang ist zu Ende. Ein letzter Blick über sein Königreich: 1000 Rostlauben. Irgendwann landen sie alle in der Presse. Vielleicht werden aus ihnen Nägel. Vielleicht aber auch neue Autos. Für den ersten eigenen Urlaub, für Küsse auf der Rückbank . Willi Eimer würde das gefallen

Zoom in den Schrottplatz

Der klar strukturierte Bauplan: Ein Rundgang über den Schrottplatz wird zum roten Faden. An vier Stationen erleben die Leser Willi Eimer in Szenen, dazwischen erzählt er von früher. Illustration: Birgitte Seibold (www.prozessbilder.de)

Der Ort

Ausgangspunkt des Artikels ist ein Ort, den viele Leser kennen. Entweder haben sie schon von der Autobahnbrücke auf ihn heruntergeschaut, oder sie haben einen Frankfurter Tatort geguckt. Damals lag im Kofferraum eines Schrottautos ein Toter. Die Zeitung zoomt in das vermeintlich Vertraute und gestattet neue Einblicke. Der Ansatz heißt: die Leser mit etwas Bekanntem überraschen.

Der Held

Willi Eimer, Jahrgang 1936, ist der einzige Protagonist im Stück. Er wird als Schrottexperte, Gründer und Unikum, aber auch als Zeitzeuge vorgestellt. Er darf seinen Erfahrungsschatz vom Lumpensammeln der Großeltern über die Abwrackprämie bis zur kränkelnden Metallbranche des Jahres 2015 ausbreiten.

Die Handlung

Christoph Hofmann hat sich für eine unspektakuläre Handlung entschieden: Sein Protagonist macht einen Rundgang um sein Königreich. Er passiert vier Stationen, und zwar: Büro, große Garage, Schrottpresse, der Haufen alter Reifen und wieder das Büro. Zwischen den Haltepunkten erzählt Eimer von damals und heute. Brigitte Seibold hat diese klare Erzählstruktur in ihrer Zeichnung dargestellt.

Zwischen den Stationen

Der Rundgang startet im Büro. Und sogleich weist Hoffmann die Leser ein: Wer ist der Protagonist. Wo ist der Schauplatz. Inwiefern ist er relevant. Und ab in die Geschichte: Zeitsprung zum Geschäftsmodell der Großeltern. Willi Eimer erfindet sein eigenes Business und kommt auf einen Dreh zum Geldverdienen.

Zwischen der Station zwei und drei erzählt Eimer vom Trockenlegen, Gabelstapeln und Lagern auf dem Platz. Der Autor tritt zurück und zeigt den Helden: Wie er lächelt und warum. Weil nämlich seine ganze Familie um ihn herum auf dem Schrottplatz arbeitet.

Zwischen der dritten und vierten Station erfahren die Leser, was Heckaufkleber erzählen. Und wie die Branche sich entwickelt hat, welch goldene und trübe Zeiten Willi Eimer gesehen hat.

Beim letzten Gang zurück ins Büro geht es um Gefühle. Das Auto, Hoffmann sagt es schon im Lead, ist mehr als die Summe seiner Teile. Eine Kundin verabschiedet ihr Auto mit Blumen. Und Willi Eimer erklärt sein Verhältnis zu seiner Handelsware.

Vorher-Nachher

Eine Story braucht ein Vorher-Nachher, eine Entwicklung. Zum Beispiel einen Rundgang. Oder – hier in die Schilderung von Willy Eimer eingewoben – der Vergleich von früher und heute. Früher: 120 Euro für den roten Fiat. Heute: 20 Euro.

Die Gegenstände

Einige Gegenstände spielen wichtige Rollen. Sie erzählen Geschichten in der Geschichte. Lumpen, Knochen, Maden. Stinkende Hasenfelle. Und Urlaubsaufkleber auf Kofferräumen. Immer da, wo Leser sinnliche Eindrücke miterleben, wird aus schnöder Lektüre ein Leseerlebnis. Es entsteht Nähe zum Thema, zum Text, zur Zeitung. Der Autor spürt charakteristische Details in seinem Thema auf und reicht ihre sinnliche Qualität an die Leser weiter.

Emotionen

Christoph Hoffmann traut sich was. Er hätte einen trockenen lokalen Wirtschaftsartikel schreiben können, mit Zahlen vom Branchenverband. Er hätte sein Thema technisch auffassen können, genauer erzählen, wie aus Schrottautos Metallwürfel werden. Doch der Rahmen, den er setzt, ist ein anderer. Er behauptet, dass in Autos Erinnerungen stecken. Erster Urlaub, erster Kuss, weitere Küsse. Die Beziehung der Leser zu ihren Autos ist der Köder, den er auswirft und am Ende seines Textes wieder einholt.

Mikrokosmos und Makrokosmos

Der Text, seine Details vor allem, lösen Assoziationen aus, die weit in die Geschichte der Republik und ihre wirtschaftliche Entwicklung reichen. Von der Zeit des Knochenkochens und Lumpensammelns über die Zeit des VW Käfer bis zur Abwrackkprämie. Urlaubsziele wie Adria, Balaton und Korsika lösen Erinnerungen aus, Stichworte wie Campingwagen und Stahlindustrie verweisen ins letzte Jahrhundert. Im Alltäglichen, vermeintlich Banalen scheint das große Ganze auf.

Autor

Christoph Hoffmann

Foto: Oliver Schepp

Christoph Hoffmann wurde am 30. Dezember 1982 in Gießen geboren. Nach Stationen in Warendorf und Berlin kehrte er vor sechs Jahren in die hessische Heimat zurück. Nach Praktikum, Volontariat und drei Jahren als Redakteur bei der Wetterauer Zeitung wechselte er im Sommer 2015 zur Gießener Allgemeinen Zeitung. Dort ist er als Autor sowohl für die Stadt- als auch die Kreisredaktion im Einsatz.

Ich fahre ein Auto, das bald ein Fall für Willi Eimer sein könnte. Einen 17 Jahre alten BMW, den meine Oma schon gefahren ist. Ich hab grade 1000 Euro für den TÜV reingesteckt. Natürlich habe ich mich gefragt, ob sich das noch lohnt. Aber noch ist er am Leben.

Ich möchte früh im Text erklären, wo Willi Eimer herkommt: Aus einer klassischen Lumpensammlerfamilie. Die Leser bekommen ein Bild von der Person. Der Anfang ist erzählerischer, damit der Leser in die Geschichte reinkommt. Da steckt auch ein Stück klassischer Heldenweg drin. Der Anfang erzählt eine Entwicklung. Die Probleme tauchen später auf und werden bewältigt.

Ich halte mich chronologisch an den Rundgang. Der hat die Struktur vorgegeben. Ich habe dann Erklärungen und biografische Erzählungen eingebaut. Ich fange mit einer Szene an und komme am Schluss darauf zurück.

Mein erster Urlaub ging nach Südfrankreich. Mit mehreren Freunden, direkt mit 18, mit einem alten Golf 2. Alle 100 Kilometer mussten wir anhalten und mit dem Hammer die Schraube der Lichtmaschine festklopfen. Wenn man gerade volljährig ist, bedeutet das Auto ein neues Freiheitsgefühl. Es bringt einen an besondere Orte. Und meinen BMW verbinde ich mit meiner Oma. Vielleicht habe ich es auch deswegen nicht übers Herz gebracht, ihn zu Willi Eimer zu bringen.